Alfred Lang

University of Bern Switzerland

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Conference Presentation 2001

Ein transdisziplinäres Gymnasium zum Verstehen der menschlichen Kondition

2001-02 Transdiscipl.Gymnasium
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Erweiterte Fassung eines Vortrags, gehalten an der Plenarversammlung des Vereins Schweizerischer Gymnasiallehrerinnen und Gymnasiallehrer zum Thema "Interdisziplinarität", in der Aula der Kantonsschule Luzern am 9. November 2001

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First  posted 2003.11.03

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Revisions: 2003.12.12  

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Von den Disziplinen

Vom Verstehen der menschlichen Kondition

Von einem transdisziplinären Gymnasium

Zusammenfassung


"Wenn das Bildungswesen versagt, ist die ganze Gesellschaft in ihrem Stand bedroht."

Georg Picht (1964)

Den wissenschaftlichen und technologischen Disziplinen fehlt heute eine inhaltliche Leitidee, die sie zusammenhält. Da alles Wissen und Tun von Menschen und für Menschen ist, sollten sich alle Fächer systematisch am Verstehen der menschlichen Kondition orientieren.

Es ist möglich diese Leitidee auf eine Weise anzulegen, die nahezu nichts präjudiziert, aber alte Aporien auflösen kann. Weil wenig Hoffnung besteht, dass sich die existierenden Disziplinen auf eine solche Perspektivierung ihrer Traditionen einlassen, schlage ich die Herausbildung einer ausdrücklich transdisziplinären Eingangsstufe ins höhere Bildungswesen vor. Das Gymnasium könnte sich die Pflege des Verstehens der menschlichen Kondition zur Hauptaufgabe machen, indem es seinen gesamten Unterricht an dieser Leitidee orientiert. Damit kann es einen neuen Sinn, einen tragfähigen Sinn für diese Institution und ihre Studierenden gewinnen. Meine Erwägungen sind überwiegend strategisch und der Komplexität des Themas entsprechend holzschnittartig.

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Von den Disziplinen

Wenn ich zum Beispiel das Fach meines Studiums und meiner Laufbahn, die Psychologie, von aussen her anschaue, muss ich sagen: was für eine Fehlentwicklung! Die Psychologen haben im 20. Jahrhundert den Menschen zweimal in zwei Teile geteilt und niemand hat sie gestoppt. Zweifach zerschnitten und jeweils nur den einen Teil in ihren Horizont aufgenommen.

Erstens will sich die moderne akademische Psychologie als eine Naturwissenschaft verstehen. Die Menschen sind gewiss Lebewesen; doch auch, und besonders so, Kulturwesen. Damit reduzieren die Psychologien die Menschen auf ihr Tiersein. Hat die Anthropologie früherer Zeiten die Kulturalität, zuerst die Spiritualität, dann die Rationalität der Menschen gegen ihre "Natur" ausgespielt, will man Menschsein jetzt zur Gänze aus oder mit ihrer Naturalität, der Genetik und der Physiologie, begründen.

Zweitens und paradoxerweise ist die moderne Psychologie dem antiken und mittelalterlichen Vorurteil verfallen geblieben, der Mensch, wohl als Manifestation einer Idee oder eines Ideals gedacht, sei ausserhalb des konkreten Kontexts des Zusammenlebens bestimmbar. So untersucht sie das Individuum und seine Funktionen begrifflich als isolierte Stücke, empirisch weitgehend in künstlichen, von den Forschern fürs Experiment extra gemachten Umwelten.

Doch wie jedes Lebewesen kann man auch Menschen nur im Verbund mit ihrer Umwelt verstehen; kann man nichts begreifen, ohne den Zusammenhang seines Werdens, also seine Bedingtheiten, und den Fächer seines möglichen Wirkens in allen denkbaren Umständen, also sein Bedingenkönnen, zu verstehen. Kein Mensch kann ausserhalb seiner Umwelt und ohne ständigen Austausch mit ihr existieren. Will man menschliches Tun und Sein verstehen, wird man dessen Bedingungen sowohl in internen wie in externen Bedingungen und besonders in deren Koordination suchen müssen. Und weil Menschen sich in wesentlichen Teilen ihre Umwelt, nämlich ihre Kulturen, selber machen und diese wie damit auch sich selber laufend differenzieren und verändern, lassen sich weder Konstanz und Wandel noch Innen und Aussen gegeneinander ausspielen. Was soll da Naturwissenschaft, was sollen da "zeitlose" Gesetzlichkeiten, nach denen die Wissenschaftler in ihren Kunstwelten suchen?

Unter ihren einseitigen Setzungen hat sich diese Wissenschaft bisher nie darauf hin einigen können, was ihren Gegenstandsbereich darstellen soll: die Seele, die Psyche, das Erleben, das Verhalten, das Handeln, ...

Hingegen hat sie sich für eine bestimmte Vorgehensweise entschieden: eine Konzeption des Menschen und eine Methodologie, darüber mehr zu erfahren. Einmal, im späteren 19. Jh., adoptiert und, im früheren 20. Jh. gegen Konkurrenz durchgesetzt, ist ihr Vorgehen nur noch zur Verschlimmerung verbessert worden. Die Konzeption ist cartesianisch, die Geisthälfte freilich zunächst verleugnet, die Methodik demgemäss "naturwissenschaftlich". Erscheinung werden gezählt und gemessen, ihre Zusammenhänge auf Funktionen reduziert, idealerweise mathematisch, genauer statistisch, heute auch computermodelliert. Statistisch, weil nicht nur die Messverfahren, sondern wohl auch die Phänomene nicht belieben, schön regelmässig zu sein.

Das ist nicht nur absurd, weil diese Methodik nicht wiederholbare und wenig regelmässige Erscheinungen, also Singularitäten, ausschliesst bzw. in deren Kategorisierung aufgibt. Psychische Erscheinungen sind aber stets einmalig, auch wenn manche von ihnen Ähnlichkeiten aufweisen. Sie bringt zudem zwei weitere Voraus-Setzungen in die Untersuchung, die ebenso alles andere als sachverhaltsgemäss sind: sie zwingt zu Dekontextualisierung und zu Extensional- oder Klassenlogik.

Die einzelne Erscheinung wird mehr oder weniger willkürlich aus ihrem Kontext herausabstrahiert, doch leider dann für eine Sache, ein Objekt, eine selbständige Entität, genommen, obschon es sich bloss um einen Aspekt von etwas handelt. So wird Denken für eine eigene Sache genommen und untersucht, obwohl es nie ohne gleichzeitige und einflussreiche Emotionen und Motivationen vorkommt. Und ähnlich fast alles, was die Psychologen und andere verstehen und erklären möchten. In den Isolationen dieser reifizierten Abstraktionen wird der Grund der Erscheinungen in ihrer angeblichen Repräsentation verzerrt oder zerstört; denn man nimmt den realen Gründen der Erscheinung die Möglichkeit, in ihrem Zusammenhang ihre Wirkungen zu entfalten. Das heisst, die Psychologen und viele andere erforschen ihre "Gegenstände" in einer selbstkontruierten Kunstwelt. Die Psychologie ist demnach ein kulturelles Produkt. Dass sie gleichzeitig die Kulturalität der Menschen aus ihren Begrifflichkeiten verbannt, macht ihr Vorgehen noch widersprüchlicher.

Zweitens operieren die Psychologen im Gefolge platonischer Idealisierungen und ihren aristiotelischer Logisierung in Bereich von Symbolsystemen, die ihren Bezug zur Realität vollends verloren haben. Denn aller Umgang mit den symbolischen Repräsentationen ist ja auf Klassenebene. Die kategorialen Begriffe interagieren aber nur im Kopf oder Computer des Wissenschaftlers, in der Realität sind es singuläre Strukturen und Prozesse.

Die Psychologie ist nur eines von mehreren Beispielen für Teilungen der Welt in den Wissenschaften, die uns die Welt verstehen und handhabbar machen wollen. Eine ähnlich verrückte Verirrung sehe im Versuchtder Ökonomie, die Werte auf Geld zu reduzieren; auch sie forscht überwiegend in Kunstwelten. Institutionell am sichtbarsten ist allerdings das gebrochene Verhältnis der Wissenschaftler zum Ganzen der Welt in der Entgegensetzung von Natur und Kultur in der Teilung der philosophischen Fakultät in die sogenannten Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften.

Die Naturwissenschaftler haben in Beschränkung auf Mechanistik die Rolle von Bedeutung aus ihrem Horizont gewiesen. Die Geistes- oder Kulturwissenschaftler beschränken die Rolle von Bedeutung auf menschliche Sprache und verwandte Kodes. In der Lebenswelt beginnt aber Bedeutung mit den grossen Molekülen die zentrale Rolle des evolutiven Geschehens zu spielen. Die grossen Moleküle und ihre Komposita in den Organismen und deren Interaktion mit den sie umgebenden Strukturen ist nämlich physiko-chemisch allein so wenig zu fassen wie der Umgang von Menschen mit ihren kulturellen Strukturen. DNA-Sequenzen und kulturelle Objekte haben eine Eigenschaft gemeinsam, nämlich ein Potential, zusammen mit geeigneten Partnerstrukturen in geeigneten Milieus Wirkungen zu generieren, welche nicht auf ihre eigenen physiko-chemischen Eigenschaften zurückzuführen sind. Das ist mein Verständnis von Bedeutung. Beide Wissenschaftsgruppen haben sich mithin blind gemacht für wesentliche Teile der Welt. Die Naturwissenschaftler, die sich mit dem Leben befassen, blenden Bedeutung aus, wollen sie auf Physiko-Chemie reduzieren; die Geisteswisenschaftler beschränken Bedeutung auf den menschlichen Geist und seine Produkte, wollen sie linguistisch reduzieren.

Diese Teilung und Spezialisierung des Vorgehens und der Konzeptionen ist das Ergebnis einer kulturellen Entwicklung, nämlich der Philosophie und der Wissenschaften, nach langem Vorlauf vor allem im 19. Jahrhundert. Sie wird im 20. Jh. für so selbstverständlich gegeben gehalten, dass kaum jemand wagt, sie gründlich in Frage zu stellen. Zwar gibt es viele kritische Vorstösse gegen den Leib-Seele-Dualismus. Aber das hat keine Auswirkungen auf das Vorgehen und die Arbeitsteilung der Wissenschaften.

Offensichtlich gibt es keine Begründung dafür in den Sachverhalten selbst. Ein Molekül, das selektiv ein Exemplar eines anderes Molekül sucht, mit denen es interagieren kann, sucht und es anhand von Rezeptoren findet und dann mit ihm zusammen Prozesse auslöst, welche mit diesem Identifikator nichts zu tun hat. Ein Tier, das ein anderes als Artgenosse oder als Individuum erkennt und in art- und situationsgerechter Weise mit ihm umgeht, operiert aufgrund von Bedeutung. Kultur und Natur sind kein Gegensatz. Kultur ist vielmehr ein Fortsetzung das Natürlichen; Bedeutungsprozesse und -strukturen sind durchgängig.

Werden doch die Experimente der Naturwissenschaftler in eigens gemachten Arrangements durchgeführt und ihr Gehalt in mathematischen Strukturen dargestellt -- beides essentiell kulturelle Errungenschaften. Und studieren doch die Geisteswissenschaftler zum Beispiel Sprachen oder Gesellschaften -- beides kulturelle Überformungen von essentiell biotischen, also wohl ursprünglich natürlichen Errungenschaften, was immer "natürlich" heissen soll. Materie und Geist sind unsere Konstrukte; wir sollten sie nicht für Wirklichkeiten nehmen; schon gar nicht für separierte. Und dementsprechend separate, fundamental getrennte Wissenschaften herausbilden.

Besonders absurd ist diese Zweiteilung der Menschen, die aufhören Menschen zu sein, wenn man die kulturellen Fortsetzungen ihrer Naturanlagen ausklammert. Oder wie sollen denn irgendwelche kulturellen Errungenschaften verwirklicht werden, wenn nicht in menschgemachten, nicht schon als solche naturgegebenen stofflich-energetischen Strukturen, ob das nun, Häuser, Werkzeuge, Chemikalien oder Tintenspuren auf Papier oder Bits und Bytes in Computern sind oder was immer? Ist denn nicht die Mathematik der Prototyp einer Geisteswissenschaft? Sie handelt doch von menschgemachten Symbolen, von nichts sonst.

Dazu kommt, dass die sogenannt naturwissenschaftlichen Psychologen, welche einem physiko-chemisch-biologistischen oder mechanistischen Reduktionismus huldigen, die sogenannt geisteswissenschaftlichen Psychologen aus der akademischen Welt hinaus auf den Markt der Schönrednerei gedrängt haben. Und im Wandel ihrer Disziplin von einem Studium zu einer Berufsausbildung ebenfalls mehr und mehr den Marktkräften unterliegen.

Auf diesem Hintergrund möchte ich generalisieren und feststellen: Disziplinen sind kulturelle Errungenschaften, genauer Emergenzen kultureller Evolution. Sie können, wie alle anderen kollektiven Produktionen von Menschen, allerlei Gutes und Interessantes bringen; sie können auch, wie jede Evolution, ins Abseits, in die Irre laufen.

Unter Evolution im allgemeinen fasse ich Systeme, deren Wandel ausschliesslich aus den vorbestehenden Strukturen und ihrer Interaktion bestimmt ist. Also weder durch Ziele bestimmt noch sonstwie durch irgendwelche systemfremde Ursachen oder Prinzipien. Wie sollen denn solche in die Systeme hineinwirken, wenn sie ganz anderer Natur sind? Die Bioevolution ist ein Fall davon, ebenso die Kulturevolution; ebenso die Entwicklung von Individuen, welch Erfahrungen machen und verwerten. Ich komme darauf zurück.

Ich möchte bitte nicht missverstanden werden. Mein Kritik an ihrer Isoliertheit verweigert nicht den Wert der Disziplinen. Sie sind meistensteils grosse Leistungen. Es nimmt ihnen nur ihre vermeintliche Sonderstellung. Sie sind weder breit genug gegründet, noch untereinander kohärent. Obwohl wir uns auf manches, was sie erarbeitet haben, verlassen können, bleibt dunkel, was sie nicht ins Auge fassen; bleibt Hirngespinst, was sie unter willkürlichen Voraus-Setzungen angehen. Wir sollten mehr Wert legen auf die Korrektur ihrer grundsätzlichen Irrwege. Wir sollten sie nicht machen lassen, jede für sich.

Ein Blick auf die die Institution Wissenschaft am Beispiel der universitären Organisation muss das Bild ergänzen. Die Disziplinen sind mehrheitlich auch Disziplinierungen geworden. Sie verlangen von ihren Adepten ein Glaubensbekenntnis wie einst die Kirchen. Die Studienpläne sind kanonisiert, die Verfahren reglementiert wie einst bei den Zünften. Wer nicht die gängigen Grundbegriffe, Methoden, Theorien und Redeweisen übernimmt, hat keine Chance; ob Anfänger oder etabliert. Wer einmal initiiert ist und Ehrgeiz zum Erfolg entwickelt, hat keine Zeit mehr, zu hinterfragen, was er tut. Die Paradigmen sind träge Massen. Revolutionen gibt es kaum mehr, nur noch Aufsplitterungen in und Verbindungen zu weiteren Subdisziplinen.

Die Universität und die Forschungsinstitutionen sind überwiegend zu Zweckverbänden von eigengesetzlichen Fächern oder Fachgruppen geworden. Jede Disziplin pflegt ihren Garten. Keine wirft den Nachbarn Steine hinein; und gegen Unkrautsamen, die hereinfliegen können, haben sich alle weitgehend immunisiert. Für Anliegen der Analyse des Ganzen hat man einige Alibiaktionen eingerichtet. Für Wissenschaftsphilosophie, Wissenschaftsethik und ähnliche Orientierungsversuche hat man eigens zuständige Disziplinen geschaffen. So bleiben sie ziemlich einflusslos.

Noch einmal möchte ich festhalten: mein Bild der Disziplinen ist eine Karikatur. Ich übertreibe, weil es so selten diskutiert wird. Ich will damit auch in keiner Weise Bemühungen um interdisziplinäre Zusammenarbeit schlecht machen. Sie existiert, wenngleich wenig verbreitet, sie begegnet vielen Hindernissen, und sie ist dennoch oft erfolgreich, vor allem in Anwendungsbereichen. Aber sie ist ein Reparaturversuch, zumeist auf Oberflächen beschränkt. Die Disziplinen können nicht gegenseitig in ihre Tiefen eindringen.

Ich möchte einen Schritt tiefer gehen. Ist denn nicht der Bedarf für Interdisziplinarität ein Symptom eines Mangels? Nämlich dafür, dass die Disziplinen, so wie sie geworden, problematisch angelegt sind. Sollten wir nicht, wenn den die Welt, jedenfalls die Welt der Erde, ein Ganzes ist, in dem vieles mit vielem verbunden, abgängig und wirksam ist, darauf achten, dass die Disziplinen dies widerspiegeln?

Eigentlich sind die Disziplinen wie Individuen, jede mit ihren eigenen Voraus-Setzungen Vorlieben und Gewohnheiten, genau genommen unvereinbar. Natürlich können sie kommunizieren und allerlei mehr. Aber jedes Individuum braucht ein ganzes Bild der Welt. Sonst können sie einander nur beschränkt oder gar nicht verstehen. Und sie werden streiten, jedes auf seine Weltbild verweisend.

Letztlich ist Interdisziplinarität, den bestehenden Disziplinen aufgepropft, streng genommen unmöglich. Sie mag neue hybride Disziplinen erzeugen; doch bleiben auch diese insulär und in ihr je besonderes Gebäude eingeschlossen. Anderseits sage diese wirklich nur in prinzipieller Hinsicht. Ich werde es später genauer relativieren

Wissenschaft ist eigentlich nichts anderes als Kritik der Kurzsichtigkeit (bei zu enger Erfahrungsgrundlage). Über das, was man meint zu verstehen, systematisch hinauszusehen. Mein Interesse ist die Korrektur der Kurzsichtigkeit auch der Wissenschaften. Die Welt ist ein Ganzes. Mit ihrer disziplinären Fächerung werden wir scheitern.

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Vom Verstehen der menschlichen Kondition

Diese Skizze der disziplinären Landschaft zeichnet eine ziemlich düstere Lage. In der Euphorie der einzelnen Erfolge, im Konkurrenzkampf zwischen den Wissenschaften und den Wissenschaftlern um Ressourcen und Prestige kommt sie leider kaum zur Sprache. Nun möchte ich mich aber auf eine bedeutende Folge dieser Lage konzentrieren:

Von allem, was wir verstehen oder zu verstehen meinen, verstehen wir am wenigsten uns selber.

Es gibt mehrere Disziplinen, die sich mit dem Verständnis der Menschen befassen, leider stets nur in besonderer Hinsicht, unter bestimmten Voraus-Setzungen. Ursprünglich waren es die Philosophen, die das Wesen des Menschen zu fassen versuchten. Aber die verschiedenen Disziplinen, die sich daraus oder daneben herausgebildet haben, haben sich je einen besonderen Aspekt ausgesucht und gehen diesen unter besonderen Einschränkungen an. Es ist hier nicht Zeit, diese Ansätze zu untersuchen vom Recht zur Medizin, von der Theologie zur Ethnologie, von der Psychologie zur Soziologie, von der Ökonomie zu den Literatur- und Kunstwissenschaften und so weiter. Nicht wenige von ihnen haben sich zu eigentlichen Technologien entwickelt, die Rezepte anbieten zur Verbesserung der menschlichen Lage der Individuen und der Gruppen.

Sie arbeiten alle weitgehend unverbunden an ihren je eigenen Aspekten mit je eigenen Konzeptionen. Lassen Sie mich noch einmal am Beispiel der Psychologie illustrieren, wie absurd das eigentlich ist für jemanden, der sich nicht daran gewöhnt hat oder aus dieser Indoktrination wieder herausgefunden hat.

Die Psychologen sind in der Mitte des 19. Jh., als sie mit modernen Methoden zu arbeiten begannen, nach den Vorgaben der Philosophen vom Bewusstsein ausgegangen. Untersucht haben sie freilich überwiegend Erlebnisberichte. Das ist wohl nicht dasselbe. Erleben ist ein Prozess, allenfalls eine Qualität des unterliegenden Prozesse, der weitaus reichhaltiger ist als das Erleben selbst; und wenn es sprachlich vermittelt wird, wird es natürlich auch Eigenschaften der vermittelnden Sprache annehmen. Erlebnisqualitäten können also vom zugrundeliegenden Prozess abstrahiert und es kann vielleicht auf zugrundeliegende Strukturen geschlossen werden. Aber diese Abstraktion zu substantialisieren und ein "Sein" erst noch ein einheitliches zu unterstellen.

Dann sind viele von ihnen um die Wende zum 20. Jh. dem Positivismus erlegen und haben dem sogenannten Behaviorismus angehangen. Das ist natürlich eine andere Abstraktion; denn kein Tier, und warum denn ein Mensch, zeigt Verhalten tout pur. Denn jeder Akt eines Lebewesens ist bezogen auf seine Umwelt: entweder es nimmt wahrnehmend auf die Umwelt bezug, die Sinne sind dabei aktiv; oder es agiert in die Umwelt, indem es sie oder seine Beziehung zu ihr ändert; drittens dürfte es Akte geben, die sich der direkten Beobachtung entziehen, weil sie zwischen internen Strukturen geschehen. Aber auch dürften mehrheitlich, wenn nicht ausschliesslich zwischen Strukturen ablaufen, die ihrerseits direkt oder indirekt auf die erfahrene oder die mögliche Umwelt bezugnehmen. Das ist unabhängig davon, ob sie die Qualitität "erlebt" haben oder nicht. Aus dem dem Fehlen dieser Qualität "das Unbewusste" zu machen ist Fiktion. Wie will man realistische Wissenschaft darauf aufbauen?

Die Psychologen haben also die Analyse von Erlebnisberichten weitgehend aufgegeben, aber um 1970 in einer sogenannten "kognitiven Wende" wieder eingeführt. Das hört sich vielleicht angenehm an. Aber ob es realistisch ist? Das eine wie das andere? Die Psychologen untersuchen also Kognitionen, Emotionen, Motivationen, Aggressionen und viel anderes mehr wie wenn das Gegenstände wären, die man vorfinden und sammeln kann. Dabei handelt es sich immer um Abstraktionen. In der Wirklichkeit gibt es keine Emotion ohne kogntivien Gehalt, keine Kognition ohne emotionale Färbung, usw. Wenn man solche Abstraktionen reifiziert und sie, losgelöst aus ihrem Kontext, zu "Gegenständen" macht, dann untersucht man Konzeptionen, nicht das wirklich Leben.

Ich möchte mit diesen Hinweisen nur deutlich machen, und zwar weit über die Psychologie hinaus, dass die Menschen in verschiedenen Umständen und zu verschiedenen Zeiten äusserst verschiedene Menschenbilder konstruiert haben. Keines hat noch je voll befriedigt und hat in einer offen Gesellschaft allgemein Anerkennung gefunden. Nicht dass ich meine, wir müssten uns auf ein einziges Menschenbild und Weltbild einigen. Das wäre verheerend, könnte nur durch Tyrannei durchgesetzt werden. Was mich erschreckt, ist nur, dass sie alle von so völlig unterschiedlichen Setzungen ausgehen und damit eine Vielfalt anbieten, die nur Verwirrung stiften kann.

So stellt sich die Frage, ob es nicht Züge der menschlichen Kondition gebe, die so grundlegend seien, dass man sich einigen müsse, wenn man nicht das Risiko eingehen möchte, dass Meinung gegen Meinung stehe. Wenn

Wenn man sich die gegenwärtige Wissenschaftslandschaft im Überblick anschaut, etwa anhand der an den Universitäten vertretenen Fächer -- fällt da nicht auf, dass es sich um ein Kaleidoskop ohne Mitte handelt? Müsste nicht in der Mitte von allem eine Disziplin oder Disziplinengruppe operieren, welche sich die Erforschung und den konsideraten Umgang mit der menschlichen Kondition als ganze zur Aufgabe macht. Das Rad dreht und hat keinen Nabel.

Wie müsste eine solche Disziplin aussehen?

Es würde die Möglichkeiten dieses Vortrag übersteigen. Ich kann nur ein paar Hinweise geben.

Ich denke sie müsste mit Begriffen operieren, die in praktisch allen anderen Disziplinen Anknüpfungsstellen haben. Vier Charakteristiken lassen sich herausgreifen.

Evolutiv

Ökologisch

Semiotisch

Kultur-Natur-überspannend

Ich habe früher statuiert, evolution im allgemeinen seien Systeme, deren Wandel ausschliesslich aus ihren vorbestehenden Strukturen und ihrer Interaktion bestimmt seien. Das hat einige Folgen, die ich auch schon angesprochen habe. Offenbar sind Lebewesen evoluieren Lebewesen im Verband mit ihrer Umwelt; sie müssen zusammen mit ihrer Umwelt studiert werden, als Ökosysteme, wie ich der Einfachheit halber sage. Das gilt für die Bioevolution Die Ökosysteme der individuellen Lebewesen bilden ...

 

Überleitung zum Gymnasium

Kann so eine Disziplin in der heutigen Uni entstehen?

Die Psychologie besetzt den Platz

Wäre das nicht eine Aufgabe für ein künftiges Gymnasium?

Vielleicht für eines, das die Klügsten anzieht und das ihnen bietet, was sie verdienen.

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Von einem transdisziplinären Gymnasium

Heutzutage vom Gymnasium zu sprechen verlangt eine historische Perspektive, rückwärts und vorwärts.

In unvermeidlicher Vereinfachung kann man sagen: Das Gymnasium hat sich aus der Lateinschule und der propädeutischen Stufe der alten philosophischen Fakultät herausgebildet und ist zur Vorbereitung und Eingangspforte für Universität und Hochschule geworden.

Grob gesehen lässt sich seine Entwicklung anhand des Wandels seiner Leitidee charakterisieren. Ursprünglich zur Hauptsache der Initiation ins christliche Weltbild dienend wurde durch den Neuhumanismus die Orientierung an der antiken Welt als Ideal eingeführt. Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jh., zwar nach mancherlei einzelnen Aufweichungen vorher, hat der Positivsmus der modernen Wissenschaften die Führung übernommen. Die drei Orientierungen laufen heute in unterschiedlicher Gewichung nebeneinander her. Unverkennbar ist ein Trend, dass Nützlichkeitsgesichtspunkte die früher bedeutendere Orientierungsfunktion dominieren.

Parallel dazu hat in jüngster Zeit zugleich eine quantitative Explosion -- der Schülerzahl -- und Schrumpfung -- zum Kurzgymnasium -- stattgefunden. Das Gymnasium hat Schüler gewonnen und seinen Sinn verloren. Aus einer Bildungsanstalt von Eliten ist eine Prep-School für fast alle geworden. Das neue Maturitätsanerkennungsreglement entspricht dem weitgehend. Der Trend entspricht dem Zeitgeist. Nun spricht zweifellos nichts gegen die Möglichkeit der Teilnahme eines weiteren Personenkreises, als dies im alten Gymnasium der Fall war, an weiterführenden Bildungsprogrammen. Aber es wird sich früher oder später rächen, dass mit der Ausweitung eine Verflachung der Verarbeitung der Inhalte stattgefunden hat, ohne dass anspruchsvollen und begabten Menschen Gelegenheit zu den nötigen Vertiefungen geboten wird.

Ich möchte diesen Vorgang interpretieren als Ausdruck einer Krise des Welt- und Menschenbildes. Anstelle eines Bildungsauftrags für eine Elite bestimmter Art tritt der Erwerb der wichtigsten Fertigkeiten und des Grundwissens in den hauptsächlichen Wissenschaften. Das heisst auch der postmodernen Beliebigkeit, die nur dadurch begrenzt wird, dass die zumutbare Stoffmenge endlich ist und die traditionellen Fächer nicht abgeschafft werden können.

Aber lernen die Schülerinnen nicht längst mehr ausserhalb der Schule? Ist nicht das Unbehagen, der Schüler wie der Lehrer, ins Unerträgliche gewachsen? Wie gross ist der Anteil derer, welche die beste Zeit ihres Lebens in dieser Schule bloss absitzen, weil kein anderer Weg zu einem normalen Plätzchen an der Sonne zu führen scheint?

Oder anders herum gefragt: bietet das Gymnasium heute Gelegenheit etwas zu lernen, was man sonst nirgends lernen kann? Ich will nicht reden von den Kompetenzen in Sprache und Sprachen, Mathematik und Wissen über Natur, Geschichte und Gesellschaft

 

So kommt mit vor, man könnte ein neues Gymnasium entwerfen und verwirklichen, dass sich umd das Verständnis der menschlichen Kondition konzentriert.

Alle Stoffe unter diesem Gesichtspunkt.

 

 

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Zusammenfassung

Ich fasse meine Erwägungen zusammen:

Die Disziplinen oder Fächer sind zu einem ernsten Problem geworden, da sie die eine Welt stückweise erforschen.

Sie sind weitgehend insulär und jede ist nahezu ausschliesslich mit ihrer eigenen Konzeption ihres Gegenstandsbereiches befasst. Instrumentelle Rückgriffe auf andere Wissenschaften ändern das nicht grundsätzlich, sind nicht selten illusionär oder bloss analog.

Das macht interdisziplinäre Zusammenarbeit nicht nur schwierig, sondern letztlich unmöglich, soll sie unter die Oberfläche der Sachverhalte reichen.

Gleichzeitig ist die Verschiedenheit der Disziplinen in mancher Hinsicht unvermeidlich. Wissenschaften können wie Lebenwesen nicht anders als die Welt von Gesichtspunkten her fassen. Die Alternative ist vermeintlich deren sogenannt "objektive" Fassung; natürlich ist das eine Täuschung; es handelt sich einfach um einen bestimmten Gesichtspunkt.

In der gegenwärtigen universitären Organisation sind kaum Reformen zu erwarten, welche die Insularisierung der Disziplinen beheben könnten; denn die Disziplinen schreiten je auf ihren eigenen Voraus-Setzungen fort.

Die physikalistische Reduktion wird dem Bedeutungsproblem nicht gerecht; die linguistische Reduktion nimmt einen Sonderfall für das Ganze.

So bleiben weisse Flecken in der Landkarte unserer Welt und an mehreren Stellen des Disziplinenfächers gibt es Inkohärenzen, welche unerträgliche Brüche bewirken.

Am schlimmsten steht es mit dem Verständnis der menschlichen Kondition: von allem verstehen wir am wenigsten uns selber und unsere Lage in der Welt.

In den bestehenden Traditionen, welche objektive Erkenntnis gegen subjektive ausspielen wollten, dabei die letztere für individuell verzerrt, die erstere für absolut und vom Erkennenden unabhängig hinstellen wollte, ist unhaltbar. Sie hat sich insbesondere nachteilig ausgewirkt, weil sie dazu geführt hat, auch die Menschen objektiv fassen zu wollen. Also in der unangemessenen Übertragung vom physiko-chemischen Bereich auf die Bereiche des Lebens, der individuellen Erfahrung und der kulturellen Strukturen und Prozesse.

Betrachtet man aber die menschliche Kondition, also die Menschen in ihrer Umwelt, allgemein evolutiv, dann erübrigt sich die Frage nach objektiver und zeitloser Erkenntnis. Entscheidend ist dann, welche Potential den Strukturen in den Ökosystemen in ihren jeweiligen Zuständen und interaktiven Kontingenzen zukommen.

Entscheidend scheint mir, dass wir ebenso, wie wir betonen, die individuelle Person sei einmalig in ihrem Werden, begreifen und durchführen, dass die Individuen einer Kommunikationsgemeinschaft untereinander über die ihnen gemeinsame Umwelt fortwährend verbunden sind. Ökologisch gesehen kann es ein Primat des Individuums vor dem Sozialverband ebensowenig geben wie ein Primat des Verbandes vor dem Individuum.

In einer semiotisch-evolutiv-ökologischen Betrachtung ergibt sich die Möglichkeit, die menschliche Kondition in ihrer biotischen, individuellen und sozio-kulturellen Bedingtheit in gemeinsamen Konzepten zu fassen. Dieses Vorgehen erlaubt Menschenbilder, die bei gemeinsamem Kern, nämlich der bedeutungsbezogen Eingebundenheit jedes Individuums in eine bedeutungsgetragene Umwelt, durchaus verschieden Menschenbilder ermöglicht.

Das Gymnasium könnte einen neuen Sinn finden und einen Impuls zum Wandel der beschriebenen bedenklichen Situation der Wissenschaften geben, wenn es sich daraufhin organisierte, seinen Schülerinnen und Schülern den Wert aller zu bearbeitenden Stoffe im Hinblick auf das Verständnis der menschlichen Kondition zu erschliessen.

Statt die Absolventen zur Hauptsache in die einzelnen Fächer einzuführen und die Integration weitgehend ihnen selbst zu überlassen scheint es angezeigt, sie gewissermassen praedisziplinär an die Welt heranzuführen, so dass die wissenschaftlichen Disziplinen in ihrem nötigen und oft fehlenden Zusammenspiel verstanden werden können. Die Voraussetzung der Einwurzelung der Disziplinen im Verständnis der menschlichen Kondition führte so durch die Fächer hindurch auf eine transdisziplinäre Ebene.

Durch die vergleichende Betrachtung existierender Menschenbilder und ihren Bezug auf den skizzierten gemeinsamen Kern müsste es überdies möglich sein, den jungen Menschen Perspektiven auf sich selbst und auf die anderen zu eröffnen, die in der gegenwärtigen Verfächerung der Zugänge nicht möglich sind.

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