Alfred Lang

University of Bern, Switzerland

Conference Presentation 1997

Vom Umgang mit Grenzen --

Entscheidungen aus Patientensicht

1997.07

@Ethic @SciPol

23 / 32KB Last revised 98.10.26

Vortrag im Collegium Generale der Universität Bern, Münchenwiler-Tagung 2./3.5.97 "Offene Grenzen des Wissens -- neue Disziplinen, neue Grenzen"

© 1998 by Alfred Lang

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Einleitung 
A. "Grenzen" : Reale und virtuelle Grenzen

B. Personen und Disziplinen

C. Vorgehen

I. Aus der Perspektive eines imaginären Patienten

II. Vom Umgang mit Grenzen in der Medizin

III. Grenzen im und um das Wissenschaftssystem

Schluss: was not tut


 

A. "Grenzen" : Reale und virtuelle Grenzen

Grenzen sind Orientierungshilfen; und mehr: Existenz- und Entwicklungssicherungen; mit dem Begriff sollten wir sehr sorgfältig umgehen. Grenzen zu "sprengen" kann fast nur Unsinn anrichten.

 

Reale, strukturell aufweisbare Grenzen sind Zweiweg-Filtereinrichtungen, welche Mengen und Arten der Stoffe, Energien, Informationen reduzieren und organisieren, welche hinaus und hinein passieren können; dadurch sichern sie die Existenz des Gebildes, zu dem die Grenzen gehören, als eine eigene, und zugleich fügen sie dieses Gebilde auf eigen Weise in eine Umgebung ein, ohne welche es nur solange und insoweit existieren könnte, wie seine "Vorräte" reichen. Ohne Stoff, Energie, Information abzugeben, würde das Gebilde platzen; ohne solche aufzunehmen, würde es verkümmern; ohne beides wäre es überhaupt nicht existent noch existenzfähig.

Wir haben es also bei Gebilden mit Grenzen immer mit zwei konzentrischen Systemen zu tun, das innere im Vergleich zum äusseren artikulierter, eben definierter (finis = Grenze, Ende); das äussere ohne selbständige Existenz, wenn wir es nicht als solches, sondern in Relation zum inneren sehen. Das innere ohne das äussere nicht existenzfähig, das äussere ohne das innere nicht denkbar.

Vom äusseren "Gebilde" "als solchem" zu reden, ist aber sinnlos: wir erliegen dann nur der Täuschung, wir redeten von etwas "Objektivem" während wir in Wirklichkeit auf ein Gegenüber von uns selbst verweisen. Das sog. "Objektive" ist ja immer das Objektive von Subjekten. Wenn wir uns mit einem Gebilde befassen, wollten wir aber eigentlich nicht uns selbs mit hineinmischen. Das war die Idee des klassischen Naturwissenschaften. Sie ist verfehlt worden. Wir können aber sehr gut Gebilde ins Auge fassen; und dann müssen wir sie in ihrer Relation zu ihrem Äusseren untersuchen.

Zellen, Organismen, Häuser, mittelalterliche Städte haben reale Grenzen; menschliche Institutionen wie Familien, Universitäten, Wissenschaften, Praktiken etc. haben Grenzen etwas anderer Art.

 

Virtuelle, nur funktionell aufweisbare, dh aus Wirkungen erschlossene Grenzen sind schwerer zu fassen, aber nicht weniger wirklich, dh fähig zu wirken. Bei den realen Grenzen ist die Stelle des Filterung topographisch bestimmbar; bei den virtuellen nimmt sie einen weiten und variablen Bereich ein. Virtuelle Grenzen sind eher von der Idee des Feldes her zu verstehen; man denkt an ein gegliedertes Feld von stärkeren oder schwächeren Einflüssen; die Einflüsse gehen nicht von einem simplen Punkt aus, sondern stammen aus wechselseitigen Bezügen der verschiedenen Gliedbereiche selbst.

Virtuelle Grenzen wären mithin als jene Bereiche zu fassen, in denen die Einflüsse vom engeren System her gegen die Einflüsse von aussen her sich die Waage halten. Was so als "Grenze" funktionell aufweisbar ist, ist eine Emergenz der Organisation eines Feldes. In den Beziehungen zwischen den inneren und den äusseren Bereichen entsteht die gleiche Filterfunktion in den Flüssen, die von innen nach aussen und von aussen nach innen gehen; das Resultat ist eine dynamische Sicherung der Institution zusammen mit ihrer Einbindung in ihr Umfeld.

 

Reale Grenzen sind also statischer, virtuelle dynamischer. Die realen, statischen sind meist verletzlicher, die virtuellen, dynamischen haben mehr Reparaturfähigkeit unter Belastung.

Merkwürdigerweise ist in den modernen menschlichen Gesellschaften eine fatale Neigung entstanden, dynamische Grenzen wo immer möglich in statische zu fixieren. Bedrohte Institutionen mit dynamischen Grenzen suchen ihre Existenzsicherung durch fixierte Grenzziehung. Die Festschreibungen erfolgen mit Gesetzen, Reglementen, Scheidungen, Tabuisierungen, Ein

und Ausgrenzungen; wer nicht für mich ist, ist gegen mich. Man sucht virtuelle Grenzen in real-fixierte überzuführen. Obwohl die Verletzung realer Grenzen verheerender ist als Einbrüche in virtuellen Grenzen.

 

B. Personen und Disziplinen

Auf diesem Hintergrund heisst: über Grenzen (in) der Medizin zu reden, insbesonder über die Fragen zu reden, wie kompatibel Grenzen (in) der Wissenschaft bzw. der wissenschaftlich begründeten Techniken und Praktiken mit den Grenzen der Menschen, besonders auch der kranken Menschen, sind.

Über "offene" Grenzen zu reden, heisst zu fragen, was Offenheit im Zusammenhang mit Grenzen, von Wissenschften/Techniken ebenso wie von Menschen und ihrer menschlichen Kondition, heissen kann. "Offen" ist im Licht von Vorstellungen über Systemkonstitution und -regulation zu untersuchen.

So fragen, läuft auf Überlegungen hinaus, ob und wie Wissenschaft für das Leben Orientierungsaufgaben übernehmen kann. Wenn, wie Prigogine behauptet, "der Hauptwert der Wissenschaft heute gerade in ihrem ethischen Wert lieg[e], Leiden zu vermindern" (1991, zit. nach Kanitscheider 1993:5), so stellt sich die Frage pointiert: Generiert oder mindert Wissenschaft Leiden, indem sie Grenzen generell öffnet, genauer, deren Filterfunktion weitet? Oder muss sie auch Grenzen achten? Ihre eigenen, als Disziplin, und diejenigen der Menschen, die sie zu Zielen ihres Tuns macht, als Versuchs- und als Therapie-Gegenstände?

  

C. Vorgehen

So möchte die Rede vom Grenzen Öffnen, vom Grenzen Sprengen, vom Erobern neuer Grenzen mit einigen Überlegungen anreichern, die vom Verhältnis MedizinÑPatient ausgehen, vom Anbieten und Annehmen von Dienstleistungen, welche Grenzen artikulieren können.

• Ich werde zuerst eine imaginäre Patientenperspektive einnehmen. Eine Art Fieberfantasie vermitteln, vielleicht.

• Dann werde ich den Blick auf die gesellschaftliche Organisation von Medizin richten.

• Und schiesslich auf die Entwicklungslage von Wissenschaften im allgemeinen ausweiten.

Aber das alles ist vordergründig; eigentlich geht es im ersten Teil um Fragen des Menschenbildes; im zweiten dann um dessen Konsequenzen für die Politik; und im dritten für dessen Rolle im Weltbild.

Lassen Sie mich noch vorausschicken, dass meine Überlegungen in keiner Weise als Anklagen oder Beschuldigungen gedacht sind. Ich suche einfach Orientierung in Geschichte und Kultur. Allfällig festgestellte Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind hörer-/lesergeneriert. Hingegen meine ich sehr wohl, Verantwortlichkeiten (im Unterschied zu Schuld) im Auge zu haben. Als Aufforderung, gewisse Gewohnheiten in ungewohntem Licht zu betrachten und gegebenenfalls sich für deren Wandel einzusetzen, kann man mich schon lesen.

Sie werden mir sicher nicht in allen Meinungen zustimmen. Teils weil ich mich zu kurz fassen muss, teils weil die Meinungen wirklich verschieden sein können. Meinungen sind ja Formen von Gewohnheiten, und die hängen davon ab, in was für Erfahrungensbereichen man sich bewegt und zu bestehen gelernt hat. Vieles was ich sage, sind eher Fragen als Behauptungen, obwohl ich manches der Einfachheit halber als Aussagen formuliere.

 

 

I. Aus der Perspektive eines imaginären Patienten

Referenzen: … zur Hauptsache aus einem doch recht anderen Menschen und Weltbild als dem gängigen …: konhret auch;

Kesselring, Annemarie (Ed.) (1996) Die Lebenswelt der Patienten. Bern, Huber. 165 Pp., besonders Mahrer, Romy (Herzinfarkt)

Strauss, Anselm; Corbin, J. & al., et (1984) Chronic illness and quality of life. St. Louis Ms., Mosby. (2nd ed.).

 

Krankheit sprengt meine "Grenzen"

Einbruch eines Fremden, oder schleichende Vereinnahmung

Einbruch ist nur zum Schein ausgrenzbar; Vereinnahmung lange zu verleugnen, dann umso gründlichere Verarbeitung gefordert

Kranksein zu realisieren heisst eigentlich: dieses Fremde, ob Bombe oder Polyp "einbauen", damit auch ändern (bleibend oder durch Ausschaffen), dh das Ganze des Menschen reorganisieren

 

Die Grenzen zu meinen Bezugspersonen etc. werden verrückt

richtig kranksein heisst: das kann ich nicht allein bewältigen!

meine "Anderen", nähere und weitere, muss ich in ein anderes als das gewohnte Verhältnis zu mir bringen: von mir zu ihnen wie von ihnen zu mir; natürlich tragen sie das Ihre dazu bei

ich muss weitere Personen in meinen Kreis hereinnehmen: Experten, Techniker, Weise (die mir das Ganze spiegeln, das ich nicht überschaue)

 

Ich muss (neuen) Rollenträgern Zugang eröffnen

Die vertrauten und die neuen Personen treten in Rollen auf.

 

Ich bin auf Erarbeitung der Geschichte meiner Systemstrukturen verwiesen

welche Rolle spielt mein und meiner Umgebung früheres Verhalten in der Genese der Krankheit?

und ich sehe gleichzeitig meine Schwächung und Hilflosigkeit, dies adäquat zu tun

Dieganostische Verfahren durchdringen meine Grenzen mit ähnlicher Gewalt wie die Krankheit

Mit der Diagnose werde ich neu eingegrenzt. Und anders ausgegrenzt.

 

Prognostik grenzt mich zu einem statistischen Item Ð aus oder ein

Ist die Statistik für die Medizin oder für mich?

Was kann ich mit Wahrscheinlichkeiten anfangen?

Ich kann ja nicht ein bisschen mehr oder weniger sterben, sondern nur entwederÐoder (Kirerkegaard).

Eigentlich ist doch ein statistischer Kennwert (Erfolgswahrscheilichkeit einer Therapie oder Todeswahrscheinlichkeit bei einer gegebenen Diagnose) gar nicht ein Deskriptor meiner Lage; denn niemand kann mir sagen, wo in der Wahrscheinlichkeitsverteilung, welche der Deskriptor zusammenfasst, ich mich in meinen Umständen befinde. Der Deskriptor beruht auf der Auswertung von Klassen von Erscheinungen, deren Sinn ja gerade darin besteht, dass die Klasse allerlei Variation übersieht und ein paar ausgewählte Merkmale verabsolutiert. Also aufgrund von mehr oder weniger willkürlichenGrenzsetzungen. Aristotelisch-essentialistisch! Aber alles Fleisch und Leben steckt in den Akzidentien.

Eigentlich ist der statistische Deskriptor ein Merkmal der Klinik oder einer Gruppe von Kliniken weltweit, welche eine Therapie anwenden oder eine Diagnose stellen; oder von Ärzte-Tund_Pfleger-Teams, von denen man weiss, wie unterschiedlich informiert und unterschiedlich tüchtig sie sind. So ein Deskriptor könne mir allenfalls dazu dienen, die best-erschwingliche aller Kliniken ausfindig zu machen. Aber über mich in meiner Lage sagt er nahzu nichts. Wohl eher ein Fetisch im Wettbewerb der Prozeduren.

Die (Gruppe von) Klinik(en) kann probabilistisch beschrieben werden; ich nicht. Freilich, eine grössere oder kleinere Likeliyhood besteht schon. Leider gibt es kein deutsches Wort dafür; man könnte übersetzen: Eintreffenswahrscheinlichkeit eines Ereiginisses in der Zeitperspektive. Das ist ganz etwas anderes als die Stichprobenwahrscheinlichkeit der Zugehörigkeit zu einer eingegrenzten bzw. ausgegrenzten Klasse, welche der Deskriptor fasst. Ständig werden probability und likelyhood verwechselt.

 

Und wie, wenn die Diagnose partiell oder ganz verkehrt wäre?

Was soll dann die Verwendung von Klassenbegrifen? Sollten wir nicht die Wahrscheinlichkeit des Zutreffens von Diagnosen auch mit berücksichtigen?

 

Die Therapie erfordert ständige Grenzerweiterungen, welche die Klassenbegrifffe sprengen.

Die Erfahrungen mit diesen Grenzbereichen zeigt auch die Grenzen der andern.

Kranksein ist nicht ein Zustand, sondernen Prozess, ein Wandlungsprozess, hoffentlich zu Genesung; manchmal freilich ist die beste Hoffnung auch der Tod.

 

Die Bezugspersonen geraten mit mir in ein Zwiespaltfeld und müssen (erst in dieser Lage!, das lässt sich nicht aus dem Alltag zuverlässig vorhersagen!) "geprüft" werden, ob sie tragen helfen oder hindern.

Inwiefern wollen die Mediziner, Pflegerinnen etc.

Wie kann ich die Krankheit und ihre möglichen Dauerfolgen in meinen Lebensentwurf integrieren? Kann ich sie aussondern?

 

Wie verhält sich Krankheit und möglicher Tod zu den Erwartungen der herrschenden Normen?

Sind die enormen Eingliederungsmassnahmen nicht die Kehrseite der schliesslichen Ausgliederung, wenn ich gestorben bin?

Wollen sie mich am Leben, weil sie mich brauchen oder weil sie selber so sehr wünschen auch wirklich für unentbehrlich genommen zu werden?

 

Warum nehmen sie meinen Körper so ernst und mich selbst eigentlich nicht?

Ja, wenn ich wüsste und sagen könnte, was "ich selbst" ist, dann wäre leichter mit ihnen ins Verhältnis zu kommen.

 

Die hatten es manchmal (nicht immer) leichter, die sich selbst in eine unsterbliche Seele für die Ewigkeit packen konnten.

Dann war das Sterben, das der andern und das eigene, leichter zu ertragen.

Ich weiss schon, dass der Sinn meines Lebens nicht zur Geltung kommen kann, wenn ich nicht lebe.

Aber da ich ja unvermeidlich sterben muss, ist die Frage doch recht relativ; es geht im den Zeitpunkt, im Verhältnis zum anderen und zu anderem.

 

Und jener eigentliche Kern meiner selbst, auf dessen Finden und Verwirklichen ich eigentlich schon Zeit meines Lebens bin? Ñ Ich weiss, mit Unterbrüchen, aber es war auch unmittelbar Wichtigeres zu tun!

Wo ist er jetzt, wo er wirklich gefragt wäre?

Ein völliges Trugbild, dass ich selbst allein in mir selbst wäre!

Plötzlich zeigt sich, dass ich ein Netz bin, weit um mich herum, und aus der Vergangenheit in eine ungewise Zukunft, also eher der ganze Entwurf, die gesamte Menge dessen was ich tue und bezogen auf das was andere von mir möchten und was ich erfüllen oder nicht erfüllen kann.

 

Verallgemeinernd zum Menschenbild:

Seit der Aufklärung hat sich in den sog. zivilisierten Teilen der Welt ein individualisierendes Menschenbild durchgesetzt und weltweit verbreitet, welches dem Individuum zwar im irdischen Bereich persönliche Würde versprochen, aber wie schon vorher nur wenigen gebracht hat. Die damit in Verbindung gebrachte Entfaltungsfreiheit, ja der Auftrag an alle, angeblich im allgemeinen Interesse, ein Maximum an persönlicher Selbstverwirklichung anzustreben, hat zunehmend Bindungen aufgelöst, zwar viel Komfort gebracht, aber ungleich verteilt, und droht schliesslich, die Planetenoberfläche eigentlich zu verwüsten.

 

 

II. Vom Umgang mit Grenzen in der Medizin

Das Medizinalsystem in seiner Entwicklung als gesellschaftliche Institution:

im 20. Jh. sozio-ökonomisch eine der erfolgreichsten menschlichen Institutionen überhaupt (neben Recht, Rüstung und Verkehr)

Hier nicht der Ort einer geschichtlichen Rekonstruktion.

Aber man kommt wohl nicht darum herum, etwas vom Substitutionswert des Lebenskultes für die traditionellen Bindungssysteme in den Blick zu nehmen: Religion als Rück-Ein-Bindungen in die weitere Welt -- Lebensform wie Natur und Übernatur (dh Zusammenhang).

Bedeutsam ist mithin die Separierung der europäischen Moderne zwischen dem Materiellen und dem was es in bestimmter Weise organisiert, was ihm die konkreten Formen gibt: Dualismus.

Genauer der Glaube an die Gesetzmässigkeit der einen Seite, der Stoffe und Energien, und infolge der anscheinenden Unbewältigbarkeit mit ähnlichen Mitteln die Vernachlässigung bis Verleugnung der anderen Seite, bzw deren "Einkleidung" in aufgeladene Wörter ohne sauberen Sinn, wie zB des sog. Geistes.

 

Leitfrage: Wie konnte Leben als solches einen so hohen Wert bekommen?

oder wie konnte Leben vom Sinn des Lebens so stark abgegrenzt werden?

 

Zwei-Kulturen-System

die simplifizierenden Vorstellungen über Stoff und Energie, was Formen betrifft;

die simplifizierenden Gegen-Vorstellungen von allgemeinen Prinzipien (Geist, Gott) welche die Formung bestimmen sollen:

Körper und Geist und ihr nur punktuelles Zusammenkommen, separate Behandelbarkeit

Die einseitige Pflege des Materiellen, Biotischen:

Versuche einer aktuellen Systemanalyse im Ganzen sind praktisch inexistenz. Immer wieder ist die Lösung die explizite oder implizite Abgrenzung: "wir" Naturwissenschaftler (als Naturwissenschaftler!) fühen uns zuständig für dieses und jenes, was wir greifen und womit wir umgehen können. Um den Rest sollen sich andere kümmern. Wir wissen, dass manche von uns religiös sind oder am Sonntage Geige spielen, ins Kunstmuseum gehen oder draussen in der Natur uns selber finden.

 

Das bedeutet den Aufbau von Grenzen zum übrigen Wissenschaftsbereich

Praxis war vor Wissenschaft; Wissenschaftszweige sind im Hinblick auf Praxis entstanden (Anatomie, Physiologie, Pathologie etc.)

 

Der Aufbau von Grenzen innerhalb des Medizinsystems

Die immer zunehmende Spezialisierung, Verästelung, mit der hohen Verselbständigung der Zielsetzungen und damit der Absonderung von eigentlich doch recht eng miteinander Gekoppeltem (Meine Urologen haben nach erfolgreicher Zertrümmerung dreier Nierensteine und anhaltenden Koliken trotz meines Hinweises auf den andersartigen Beginn der Schmerzanfälle, die Gallensteine nicht gesehen, die im Ultraschallbild nur wenige cm von den so oft abgebildeten Nieren bestens erkennbar gewesen sind.)

Verstärkung der Abgrenzungen durch die Konkurrenz zwischen den Branchen, nicht überall Wirkung durch den Zwang zur Zusammenarbeit am einen Patienten.

Das Gefangensein in den Traditionen und dem Traditionskomplex stellt eine weitere Manifestation von virtuellen Grenzen dar.

Die Nutzung des Vakuums, welches das Erblassen der kirchlichen Religionen und ihrer Alltagspräsenz hinterlässt, für den eigenen sozialen Erfolg: das Angstmachen zusammen mit dem Heilsversprechen. Auch das wieder eine Grenzziehung, die unrealistisch ist. Denn Angst und Heil sind zwei Seiten desselben Sachverhalts. Die Kirchen haben die beiden Reiche topographisch in Himmel und Hölle getrennt; die Mediziner mögen da etwas abstrakter operieren; aber auch sie behandeln Kranksein und Gesundsein im Wesentlichen kategorial, durch eine kritische Grenze abgetrennt, sie mag noch so unsauber bestimmbar sein.

 

Die Repariermentalität

Würden Sie ein Automodell, dass sehr gehäuft Probleme zeigt, mit dem Ausbau einer extensiven und intensiven Reparatur-Infrastruktur am Leben erhalten, damit es fröhlich weiter verkehrt gebaut werden kann?

Natürlich ist die Frage so gestelllt unerträglich zynisch. Sie wird aber vielleicht erträglich, wenn wir nach der Grenzen fragen, welche zwischen, die wir zB zwischen leistungsmaximierenden Massnahmen und leidensvermindernden Massnahmen im Umgang mit Menschen zu setzen gewillt sind. Wie ist es möglich, dass wir in beiden Bereichen so ungemein "technizistisch" denken können, obwohl wir wissen, dass nicht selten die ersteren Massnahmen die letzteren notwendig machen. Wenn ich "technisch" sage, so denke ich an Umgangsweisen, die sich im Umgang mit Metallen und anderen Werkstoffen, weitgehend mit Pflanzen und teils mit Tieren als ungemein nützlich erwiesen haben. Warum entiwckeln wir nicht eigens Bewertungskriterien für die Übertragung von Techniken im Umgang mit Menschen? Sondern lassen uns immer mehr von ökonomischen Perspektiven dazu verleiten, Techniken am Menschen ganz besonders scharf auf ihre Effizienz zu bewerten?

 

Die Macht eines geschlossenen System, fast ohne Rückkoppelung sich ausweiten zu können

dass das Medizinsystem überdimensioniert wächst

dass das Medizinsystem fast nur noch aus innerer Wachstumsdynamik wächst und verstanden hat, sich gegen Aussensteuerung derart zu immunisieren, dass so absurde Basteleien wie das neue KVG die Sache noch zusätzlich anheizen

 

Verallgemeinernd zur wuchernden, ungesteuerten "Implementierung" des modernen, individualisierenden Menschenbildes:

man sucht die Steurungsprinzipien in allgemeinen Gesetzlichkeiten und findet sie dort nicht

man nutzt den Spielraum, der sich öffnet für Machtentfaltung; Individuen bekommen eine übermässig starken Einfluss

die kontinuierlichen sozialen Regulative werden heruntergespielt und wo immer möglich durch institutionelle Fixierungen (Definitionen, Gesetze, etc.) zu usurpieren versucht

 

 

III. Grenzen im und um das Wissenschaftssystem

Wissenschaftsgeschichte besonders überfällig: Disziplinen in ihren Bezugsfeldern aus Drittpositionen

Universität muss ein Ort werden auch der Reflexion der Bedingungen und Wirkungen wissenschaftlicher Tätigkeit

 

Verallgemeinerung zur Frage nach der Rolle des Wissenschaftlichen in den Lebensformen

Kunst und Wissenschaft als Avantgarden des kulturevolutiven Prozesses

 

Schluss: was not tut

John Dewey (in Experience and Nature 1925): Wissenschaften sind eine Form der konstruktiven Kritik der Alltagsüberzeugungen. "Überzeugungen" müssen Sie sehr weit fassen: sie umfassen alles, worous unser Handeln seinen Charakter erhält. Die meisten sind implizit; erst bei Schwierigkeiten müssen wir sie manifest machen und gegebenenfalls im Lichte erweiterten Horizontes revidieren und sichern.

Aber wer kritisiert die Wissenschaften und was aus ihnen hervorgeht? Dewey meinte: die Philosphie. Das ist wohl nicht ganz realistisch; denn die Philosophie gibt sich heute und wird wie eine unter allen Wissenschaften genommen; und historisch leiden viele Wissenschaften an ihrer Hinterlassenschaft. Kann denn ein solcher Auftrag überhaupt Spezialisten anvertraut werden?

Das soll nicht heissen, dass die Pflege von Wissenschafts-Wissenschaften nicht eine unbedingt notwendige und höchst dringende Aufgabe sei.

Aber letztlich gibt es keinen verlässlichen "Archimedische" Plattform zur Beurteilung der Wissenschaften ausser die Agora der verschiedenen Wissenschaften insgesamt. Jede von ihnen hat nicht nur sich selbst zur Aufgabe, sondern auch den Aufweis des Ungenügens im Sinne der Einengung, Einseitigkeit, Partikularität der anderen Wissenschaften, die in ihrem Umkreis auch etwas geltend zu machen haben.

Dazu ist weder destruktive Kritik noch Komplizenschaft gefragt, sondern Mut zur offenen Begegnung und Auseinandersetzung. Die Kritik der Wissenschaften kann nur in Zusammenarbeit der Wissenschaftler über die Fachgrenzen hinweg geleistet werden.

Das gilt nicht nur für die Wissenschaften selber, sondern auch für ihre Praxisfelder. Transdisziplinarität ist wahrscheinlich die einzige wissenschaftlich begründbare Wissenschaftskritik. Wenn sich die Wissenschaftler nicht endlich systematisch dazu aufraffen, so richten Wirtschaft und Politik die Wissenschaften und mehr zugrunde.

Wissenschaften, wie sie heute sind, sind eine problematische Kritik der Alltagsüberzeugungen für Menschen, die sich nicht auf ihre Selbst-Zerhackung einlassen möchten. Isolierte Überzeugungen überzeugen nicht. Sie verlangen Bezugnahme aufeinander, die Ahnung eines Zusammenhang, eine gewisse Kohärenz.

Ich versuchte Ihnen nahezulegen, dass viel dringender als die Öffnung oder Erweiterung von Grenzen ins Unbekannte die Klärung der systeminternen Bedingungen, Grenzen und Beziehungen ansteht. Das Menschen- und Weltbild der Moderne erweist sich als mörderisch. Seine Revision muss zum Hauptanliegen des Wissenschaftsfeldes werden.

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