Alfred Lang

University of Bern, Switzerland

Conference Presentation Handout 1995  

Semiotische Ökologie als Kulturpsychologie -- in Form von einigen Sätzen

1995.12

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 Last revised 98.10.26

Handout (leicht überarbeitet) zum Kolloquiumsvortrag vom 27.4.95 am Institut für Psychologie der Universität Bern zum Thema: Das Wohngeschehen: ein oekologisches Verständnis von Menschen in der Kultur -- warum semiotisch?

© 1998 by Alfred Lang

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1. Reduktionsversuche von Erkenntnis, ein-für-alle-mal-Erklärungen komplexer evolutiver Systeme führen in dualistische Fallen.

1.1. Formale Reduktion auf logische Prinzipien erzwingt "zwei Reiche", das Materielle und das Geistige, und erzeugt die Scheinfrage von deren Wechselwirkung und das Dilemma eines Vorrangs.

1.2. Materiale Reduktion auf Stoff-Energie-Eigenschaften erzeugt das Dilemma von Notwendigkeit und Zufall und verleugnet die Tatsache der allgemeinen Evolution, indem siewohl für Variation, nicht aber für Bewertung oder Selektion Erklärungen bereitstellen kann.

1.3. Indem sie auf Erkenntnis ewiger Wahrheiten (und Normen) gesetzt hat, hat die abendländische Ideengeschichte die Welt in Subjekte und Objektives gespalten und damit die Kultivation der Verantwortlichkeit der Menschen für den Lauf der Welt verpasst.

 

2. Der Sinn von Erkenntnis liegt in den Wirkungen des davon mitbestimmten Handelns oder Verhaltens. "Erkenntnis" ist ein (durch Isolierung einer besonderen Darstellung von ihren Sachverhalten erzielter) Spezialfall eines allgemeineren Vorgangs von "Interpretation" oder der Darstellung überhaupt und ihrer (möglichen) Wirkungen. Evolutiv läuft Erkenntnis zwingend auf Wirkungsmöglichkeiten von (ihren) Darstellungen (von Darstellungen von Darstellungen von ...) hinaus.Jeder Fixierungsversuch ist Illusion.

2.1. Pragmatizistisch lässt sich die Welt allgemein (jedenfalls in weiten Teilen) als Darstellungen verstehen, als Strukturbildungen und -veränderungen unter der Wirkung und Wechselwirkung von anderen Strukturen.

2.2. "Erkenntnis" als Darstellung und "Erkennende(s)" als Darstellende(s) sind "normale" Teile der Welt. Fast alles um uns, insbesondere alles Lebende und was daraus hervorgeht, sind Darstellungen und viele davon können auch auf ihre Weise darstellen.

2.3. So sind menschliche Handlungswirkungen Darstellungen; sie "symbolisieren", dh sie stellen Erkenntnis dar (ExtrO), wie Erkenntnis (IntrO) Erkenntnisgegenstände (ExtrA) darstellt. Da IntrA-Vorgänge nur über ExtrOs aus ihrem System herauswirken können, sollten sie keinesfalls zum Hauptziel des Vorgangs deklariert werden, sondern eben als jene besondere Phase in einem umfassenderen Geschehen genommen werden, welche sie tatsächlich sind. Gibt es Gründe dafür,

* Erkennbares (irgendwo in der Welt),

* Erkenntnis (im Kopf des Erkennenden) und

* Erkenntniswirkungen (wieder irgendwo in der Welt)

völlig unterschiedlich zu konzipieren? Es sind alles Darstellungen (von Darstellungen (von Darstellungen ( ... )).

2.4. Die Welt "lebt" in einem Wechselspiel von Strukturen und Prozessen; deren Unterscheidung ist nur relativ, von den Zeitlichkeiten der Betrachter abhängig. Strukturales (allgemein Gedächtnis) ist unentbehrlich für den evolutiven Prozess, weil dieser erfordert, dass etwas Errungenes später und in anderen Zusammenhängen wirken kann.

 

3. Wenn die Welt insgesamt als Folgen von Darstellungen (Genesereihen oder -bäume, Lewin) begriffen wird, so bestehen nicht mehr als zwei(-einhalb) Möglichkeiten ihres Zustandekommens und Weiterwirkens: dyadische und triadische Relative (Peirce).

3.1. Dyadisch: Ein Glied folgt letztlich notwendig auf ein anderes wie in einer Kette; dann ist die Welt streng gesetzmässig und dreht sich letztlich im Kreise, wie immer vielfältig sie unserem begrenzten Blick auch erscheinen mag -- das ist Parmenides', Platos, Kants & Co. Version der Welt von "ewigen Wahrheiten".
3.1a Zufallsmomente einzuführem scheint diese Sicht zu verbessern; "Notwendigkeit mit Zufall" ist freilich für die menschliche Kondition noch unerträglicher als Notwendigkeit allein. Im Mikrobereich mag das zutreffen, im Makrobereich imponiert eine relative Ordnung oder Systematik. Zufall ist rudimentäre Triadizität.

3.2. Triadisch: Manche Darstellungen generieren erst mit einer zweiten Darstellung zusammen weitere Glieder im Baum. Es gibt Verzweigungen (Variation) und Verschmelzungen (bewertende Selektion und Rekursion); die Kette wird zum evolutiven Netzwerk von Strukturbildungen und -umbildungen -- Das ist Heraklits, Herders und Deweys Version einer Welt in offener Entwicklung. In triadischen Relativen ist Zufall klärbar als raumzeitliche Kontingenz unter Affinitätsbedingungen.

 

4. Dialogisch-evolutive Strukturbildungen und -wandlungen: eine allgemeine, auf die Bereiche des Biotischen, des Psychischen und des Kulturellen anwendbare Anschauung, als Abduktion oder Entwurf vorgebracht.

4.1. Stoff und Energie sind stets in Formationen oder durchlaufen Formationen. Formationen, die gleich oder ähnlich gebildet werden, heissen Strukturen; sie sind mehr oder minder Replikate von (real) Allgemeinem.

4.2. Physische Formationen, Strukturen

- nomothetisch fassbare

- historisch bestimmte

4.3. Biotische oder lebende Strukturen

- Replikations- (Genom, Nachkommen) und Wirkungspotential (Instinkte)

- Genom (Variation) und Organismus (Selektion) im Milieu

- Affinitätsbildungen (bewertende Selektivität und potentierter Zufall)

4.4. Cerebrale oder individuelle Erfahrungsstrukturen auf biotischer Basis

- Überformung durch Erfahrung

- internale Individualität

- nur über Externalisierungen und Neuaufbau "quasi"-replizierbar

4.5. Kulturale Strukturen

- externale Darstellungen durch Handeln (Agieren) als Angebote

- Aufnahmen von Angeboten und Traditionsbildungen

- Differenzierung in den Kulturen, auf mehreren Ebenen

4.6. Internale Sekundärsysteme

- aktuelles Gewahrsein

- imaginative Darstellungen (ib räumlich, zeitlich)

- symbolisierende Darstellungen (ib sprachlich)

- integrierende Momente ("Selbst")

 

5. Menschen mit ihren Dingen in ihren Räumen (Wohnen): ein empirischer Ansatz, als Beispiel.

5.1. Psychosoziale Regulationstheorie ökologischer Systeme

a) Vierphasige Funktionskreise von Lebewesen (insb. Menschen, als Individuen und Gruppen) in evolutivem Werden: ökologische Einheiten

b) Cerebrale Strukturbildungen in den Menschen; kulturale Strukturbildungen in ihrer Umwelt; ausgeprägtere Affinitätsverhältnisse in kulturellen Traditionen

c) Konstitutive und Regulative Prozesse der Strukturerbildung, -haltung und -erneuerung

d) Autonomie (Eigenständigkeit, Durchsetzung) und Integration (Zugehörigkeit, Anpassung)

e) Vier spezielle Regulationsbereiche (Anbindung an Psychologie)

 

Regulative Reichweite

Regulative Domäne

individuell
kollektiv

aktuelle Prozesse

Aktivierung

Interaktion

Entwicklungsprozesse

Selbst-Kultivation

(Selbst-Pflege)

Kollektive Kultivation

(Selbst-Darstellung)

 

 

5.2. Deskriptionen in multimethodaler Konvergenz und vergleichende Interpretationen von konkreten Fällen

a) Wohnungsbeschreibung (WB), videounterstützt, auch ihr Wandel -- wie diese Menschen sich in den gegebenen kulturellen Traditionen "eingerichtet" haben (~ExtrA)

b) Tätigkeitsstichproben (TS), gesprächsunterstützt, ins Alltagsgeschehen verbunden -- was die Menschen aufnehmen und wie sie es hinterlassen (~ExtrO)

c) Foto-Report (FR), gesprächserläutert, in den Lebenszusammenhang gebracht -- wie die Menschen ihre Dinge und Räume "sehen" und relativ zueinander bewerten (~IntrO)

d) Repertory-Grid (RG), qualitativ und quantitativ verarbeitet -- wie die Menschen diese Räume, Dinge, Personen etc. "ordnen", auf explizite und implizite Konstrukte bringen (~IntrA)

e) Entwicklungsreihen

f) Unterschiedliche Wohnstrukturen

g) Unterschiedliche Gruppenstrukturen

h) Kulturhistorische und zwischenkulturell vergleichende Hintergründe

 

6. Mit was für Konstrukten können wir die dialogisch-evolutiven strukturinnovierenden und -auflösenden Prozesse in diesen ökologischen Systemen am besten begreifen?

6.1. Allgemeine oder durch nominale Klassenbeschreibungen und Kovariationszusammenhänge (auf aggregiertem Material gewonnen und verallgemeinert) mögen heuristisch verlocken, können aber irreführen (Feuer-Wasser-Luft-Erde-Psychologie).

6.2. Genesereihen (Lewin) als Typus -->

6.3. triadische Semiose (Peirce) in ökologischen Einheiten im Wandel als Modell des konkreten Prozesses

6.4. Alle vier Phasen im ökologischen Funktionskreis lassen sich gleich begreifen:

- Referenz -- die strukturellen Bezugnahme, die Aktivierung des Vergangenen

- Interpretanz -- das Allgemeine, welches das Besondere in ein neues Besonderes übersetzt

- Präsentanz -- die eigentliche Strukturbildung

6.5. Die Triade lässt sich nicht auf drei Dyaden reduzieren

6.6. Semiose ist eine Konzeption der parallelen Darstellung auf verschachtelten Horizonten.

6.7. "Man is a sign" -- Menschen sind sehr komplexe Präsentanzen, mit einem enormen Schatz an internen und externen (überwiegend kulturellen) Referenzen und fungieren wesentlich als Interpretanzen

6.8. Es ist nicht nötig, den Menschen a priori einen Sonderstatus als Subjekte besonderer Art zuzuweisen; das würde einen Schnitt in der Welt bedingen, für den kein Grund vorliegt, dagegen wohl aber viele Nachteile aufweisbar sind.

6.9. Wohl aber ist es möglich, vieles von dem, was mit Subjekthaftigkeit vebunden wird, als dialogisch-evolutive Errungenschaften semiotisch-ökologischer Systeme im Verbund (mit anderen und mit einer gemeinsamen Kultur, mit besonderer Bedeutung der Sprache und verwandter hochkonventioneller Symbolisierungen) zu begreifen.

6.10. Wir könnten die Besonderheit der Menschen nicht setzen, sondern mit geeigneten Konzepten empirisch untersuchen.

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