Alfred Lang

University of Bern, Switzerland

Newspaper Column 1993

Ich möchte z.B. Majorz wählen

1993.27

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Bund-Kolumne. Der Bund (Bern) Nr. 230 vom 2.10.93, S.12

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Diese Zeitung widmet sich mit erfreulichem Einsatz verschiedenen Facetten der Reform unseres Bundes-Staates. Aber wie jedes komplexe Getriebe hat auch der Staat kritische Stellen, auf die es ankommt. Bleiben sie was sie sind, so nützt alles sonstige Reformieren nichts. Gelingt es, an Schlüsselstellen Entwicklungen einzuleiten, so geht vieles andere fast von selbst. Was sind die Schlüsselstellen im Bundes-Getriebe?

In meiner Überzeugung gibt es derzeit zwei: das suchtartige Verhältnis der Bürger zur Wirtschaft (darüber ein andermal) und die Erstarrung des Parteiensystems im Proporz. Unsere Proporz-Konkordanz-Demokratie verhindert jeden ernsthaften Wandel. So stellt sich die Frage: Wie können wir unser Parteiensystem nachhaltig erneuern?

Vielleicht machen Sie mit mir ein kleines Gedankenexperiment. Wie wäre es, wenn ich "meinen" Nationalrat -- den für mich besten aus einer Schar von Konkurrenten in meinem Wahlkreis -- direkt wählen könnte?

Aber der Nationalrats-Proporz hat sich doch bewährt, werden Sie einwenden. Er hat doch mehr Gerechtigkeit gebracht und bessere Repräsentativität. Und Sie vergegenwärtigen seine Geschichte: Seit 1891 wurden der Alleinherrschaft der Radikal-Liberalen allmählich Anteile der Macht abgezwungen. Der entscheidende Schritt zum Proporz erfolgte 1919 nach dem Schock des Generalstreiks. Nun bekam auch der "linke" Parteiensektor eine "angemessene" Vertretung. Nach Übereinkunft der grossen Parteien wurde 1959 das Proportionalprinzip auch auf die Regierung ausgeweitet. Seither leben wir mit der faulen "Zauberformel". Und so haben wir eine Fast-Allparteien-Regierung.

Man könnte aber die Basis der Konkordanz auch auf andere Weise verbreitern. Beispielsweise liessen sich Wahlkreise für zwei bis höchstens fünf Abgeordnete bilden. Auf rund 22'000 Stimmberechtigte fällt ein Mandat. Jede Wählerin hätte jedoch nur eine Stimme. Sie würde aus den Kandidaten jenen auswählen, welcher ihren eigenen Überzeugungen am nächsten kommt und für sie das beste Wissen und Können zeigt. Abgeordnet würde pro Wahlkreis in der Reihenfolge der Stimmenzahl. Das dürfte allen wichtigen Überzeugungen im Land eine Chance geben.

Ein solcher Majorz hätte wohl verblüffende Wirkungen. Die Kandidaten müssten mit Beweisen ihrer Kompetenz antreten und die Wiederwahl mit Belegen ihrer Leistung suchen. Ins Parlament könnten wir vermehrt Persönlichkeiten wählen anstatt Honoratioren. Endlich hätten Parlamentarier Aussicht auf eine befriedigende Aufgabe im Dienste der Allgemeinheit anstelle des frustrierenden Verschlissenwerdens im Parteihahnenkampf und im Interessengruppengezänk.

Ein Mehrfach-Majorz-Parlament würde den politischen Prozess aus den überkommenen Ideologien herausholen. Die Zukunft lässt sich ja nicht mehr mit Generalrezepten angehen und wohl auch nicht mit Kompromissen zwischen solchen. Parlamentarische Arbeit bekäme einen anderen Charakter. Die Qualität der Konkordanz-Demokratie könnte im Reden liegen, im einander Zuhören, im einander Beeinflussen. Abstimmen ist eigentlich quantitative Magie.

Im Majorz-Parlament müsste ich mich nicht als Konservativer oder als Liberaler oder als Sozialist oder als Grüner vertreten lassen; denn ich bin keines von all dem, auch wenn ich einige Überzeugungen von allen teile. In einem Staat mit direkten Volksrechten will ich überhaupt nicht vertreten sein (auch nicht als Mann); ich gehe selbst an die Urne. Doch die Fähigsten will ich beauftragen, für uns und unter unserer Kontrolle die öffentliche Sache zu führen.

Haben wir die ständische Ordnung und das Klassendenken abgeschafft, nur um neue Interessenklassen einzuführen? Das Parlament hätte nie zum Ort verkommen dürfen, wo Partikularinteressen gegeneinander ausgespielt und dann als Kompromiss etwas vom staatlichen "Manna" über (fast) alle ausgeschüttet wird, bis der Staat Bankrott geht.

Die Parteien sind im Proporz-System zu Pfründenvereinen verkommen, wie seinerzeit die Chorherrenstifte, die Zünfte oder die Stadtaristokratien: vom Zwang zur Systemerhaltung besessen, von der Realität des Lebens isoliert.

Die Konkordanz-Demokratie ist etwas wirklich Wertvolles, vielleicht das kostbarste Exportprodukt der Schweiz überhaupt. Wer sich nicht fanatisieren lassen will, wer ein von den andern geachtetes und daher die andern achtendes Zusammenleben allen anderen Ideologien vorzieht, wird eine solche Staatsform anstreben. Weltweit können die meisten davon nur träumen.

Der politische Proporz ist ein quantitatives Verfahren, den Minderheiten ihr Teil an Einfluss zu sichern. Er ist auch keine schlechte Sache. Aber wie zwei gute Medizinen zusammen eingenommen: das Kombinat der beiden, die Proporz-Konkordanz-Demokratie, ist ein Gift. Die Schweiz nimmt diese Doppel-Medizin seit 1919 und geht langsam daran zugrunde. Warum?

Der Schweizer Proporz hat praktisch die Gesamtheit der Parteien zu einer Quasi-Einheitspartei gemacht. Für die Fassade spielen sie Konkurrenz; ein paar Mandate gehen mal hin, mal her. Aber das gemeinsame Interesse spielt bestens: zuerst kommt die Selbsterhaltung und dann die Speisung der Klienten. In ihrer Proporz-Fixierung ist unsre Regierung beinahe so schwer kontrollierbar wie eine Einparteienherrschaft. Bedenklicher noch: sie lahmt und lähmt.

Wohl dem Land, das seine politischen Strukturen in einem ordentlichen Verfahren regenerieren kann. Die Volksrechte würden den Übergang zu einem derartigen Majorz auch gegen den Willen der heutigen Parteien möglich machen. Solange wir sie im Proporz halten, wird, mit kleinen Retouchen, alles beim alten bleiben.

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