Alfred Lang

University of Bern, Switzerland

Book Chapter 1993

Eine Semiotik für die Psychologie --

eine Psychologie für die Semiotik

1993.03

@GenSem @SemEcoPro @EcoPsy @CuPsy @SciPol

32 KB  Last revised 98.10.25

Pp. 664-673 in: Leo Montada (Ed., 1993) Bericht über den 38. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychologie in Trier 1992. Vol. 2. Göttingen, Hogrefe.

© 1998 by Alfred Lang

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Inhalt


Abstract

It is suggested that psychology and semiotics, both being growth fields claiming central roles in the concert of sciences, have much in common and also have both to offer considerably to mutual benefit. Four varieties of semiotics are briefly described, viz. the study of signs as objects, as meaning, as means of communication, and from the point of view of their effects. The latter is elaborated in that it might be seen as proposing a general concept of causation more suitable for use in psychological and psycho-ecological problems than the traditional necessity idea of determination. An new elementary semiotics is sketched by developing Charles S. Peirce´s triadic semiosis concept with the help of psychological constructs such as Jakob von Uexküll´s function circle and Kurt Lewin´s genetic series concept. Perception and action, intra-psychological processes as well as culture and cultivation can be construed with the same conceptual tools. A non-Cartesian view of the subject and self as emerging rather than presupposed entities becomes feasible.

A revised Englisch version of this paper has been published as Lang, Alfred (1994) Toward a mutual interplay between psychology and semiotics. Journal of Accelerated Learning and Teaching 19 (1) 45-66.


Inhalt

Haben Psychologie und Semiotik etwas miteinander zu tun? Haben die beiden Disziplinen einander etwas zu bieten? Wenn ja, wie können sie einander befruchten?

Bevor ich diesen drei Fragen nachgehen kann, muss ich die beiden Wissenschaftsfelder in aller Knappheit charakterisieren. Mein Verständnis der Psychologie ist ein ökologisches, genauer ein kultur-ökologisches. "Oikos" ist -- ursprünglich und allgemein -- der Haushalt: das ist ein Kulturprodukt und Kulturmittel, aufbauend auf vitalen und sozialen Instinkten. Es umfasst Menschen in ihrer Einbettung. Psychologie kann isolierte Menschen nicht untersuchen; denn solche kann es nicht geben. Sie gilt demnach dem Verhältnis der Menschen zu ihrer Umwelt. Sie erforscht die Menschen als Teil der Natur, welche sie in historischen, sozialen und persönlichen Entwicklungsprozessen als deren Schöpfer und Geschöpf zu ihrer je eigenen Kultur überformen.

Auch zur Semiotik wäre mehr zu sagen, als der Platz erlaubt. Semiotiker und Aussenstehende haben häufig ein Verständnis, das man als pars praeter totum bezeichnen könnte: sie setzen nicht, sondern halten einen Teil für das Ganze. Zum Beispiel die Semantik der Wortbedeutungen für die ganze Semiotik. Man kann semiotisches Denken auf vier Zugänge zurückführen, die einander nicht ausschliessen. Ich werde Sie mit dem vierten zu verführen suchen.

(1) Am verbreitetsten ist immer noch der klassische Ansatz der Semiotik als der Wissenschaft von den Zeichen. Zeichen sind hier besondere Objekte, die etwas bedeuten oder die andere Objekte in gewisser Hinsicht vertreten können. Aliquid pro aliquo, das Signum für das Signatum, das signifiant für das signifié. Man kann Zeichen "botanisieren" und klassifizieren und untersuchen, ob und welchen Regeln die Zuordnung von Zeichen und Bedeutung folgt. Zeichen sind nicht nur Wörter und Sätze, sondern "Texte" und ihre Bestandteile überhaupt, auch andere als sprachliche. Gesten, Gaben, Bauten, Verkehrszeichen sind Beispiele. Listen von Zeichen, Symbolen und Symptomen, und Nachschlagewerke für ihre Bedeutungen sind und bleiben ein Ziel, Wörterbücher und Enzyklopädien aller Arten von Zeichen sind bedeutsame Hilfsmittel des Zusammenlebens und erfreuen sich auch in der Psychologie nach wie vor grosser Beliebtheit. In jedem Kopf finden sich unentbehrliche Musterbanken. Aber auch die Probleme dieser Denkweise sind gross. Denn es hat ja wohl alles seine Bedeutung oder Bedeutungen, und dann je nach dem. Der Ansatz verliert sich denn auch in Abgrenzungsversuchen -- Zeichen gegen Nichtzeichen, Zeichenklassen gegeneinander, Kontextabhängigkeit von Bedeutungen -- und ist letztlich auf Setzungen verwiesen, die durch andere Setzungen ersetzt werden können.

(2) So hat man denn versucht, den Ansatz gewissermassen auf den Kopf zu stellen und Semiotik als die Wissenschaft von den Bedeutungen zu betreiben. Das ist vor allem die Semiotik des sog. Strukturalismus. Es ist leicht einzusehen, dass in Bereichen wie Literatur und Kunst Zeichenkataloge noch problematischer und teilweise mehr schädlich als nützlich sind. Etwas auszudrücken, was bisher nicht "gesagt" werden konnte, kann Zeichen-Listen und -Klassen sprengen. Im Kern behaupten Strukturalisten und Poststrukturalisten: An einem Stück Architektur oder Musik lassen sich durchaus eine Menge von Zeichen(objekten) identifizieren und, wenn man unbedingt will, als einzelne deuten. Die "eigentliche" Bedeutung der Stücke, wenn es so etwas überhaupt gibt, wird jedoch auf diese Weise nur partiell erfasst oder gar verfehlt; erst in einem generativen Prozess in offener Auseinandersetzung mit dem Ensemble, dem ganzen Text, erwächst so etwas. Auch die Probleme dieses Ansatzes können nicht in zwei Sätzen nachvollzogen werden. Lassen Sie mich bloss vermuten. dass man das Risiko läuft, Dunkles mit Dunkelheit ausleuchten zu wollen. Wissenschaften wollen Referenzobjekte und Konstrukte einander zuordnen, die beide intersubjektiv verlässlich aufzeigbar sind.

(3) Semiotik wird als Wissenschaft vom Zeichengebrauch aktuell am intensivsten diskutiert. Zeichen werden hier aus ihrer Funktion in kommunikativen Prozessen verstanden. Zeichen, die als Signale oder Bedeutungsträger auch materiell sein müssen aber darin ihre Funktion nicht erschöpfen, werden als Informationsvermittler zwischen zwei Systemen verstanden. Bei Psychologen kann ich Vertrautheit mit Modellen der Kommunikation wohl voraussetzen, von informationstheoretisch-maschinellen bis zu sprach- oder sozialpsychologisch verstandenen zeichenvermittelten Übertragungen zwischen Sendern und Empfängern. Je nach dem, welche Arten von Systemen man für solche Betrachtungen zulassen, welche Voraussetzungen für einen kommunikativen Prozess man anerkennen will, ergeben sich eine Fülle von teils einander konkurrenzierenden, teils aufeinander beziehbaren Zeichenprozess- oder Zeichenfunktions-Modellen. Gegenüber der Zeichenobjekt-Denkweise ist durch die Funktionalisierung ein grosser Fortschritt erzielt; aber eigentlich bleiben die dortigen Abgrenzungsprobleme und die Abgrenzungswillkür bestehen, werden bloss vom Fokus "Zeichen" auf dessen Umfeld, den Zeichenprozess und seine Bedingungen verschoben. Auch die Anliegen der Bedeutungstheoretiker sind infolge der Konzentration auf den Kode nur bedingt berücksichtigt.

(4) Solche Schwierigkeiten haben einige Semiotiker zu einer allgemeineren Betrachtungsweise veranlasst, die man am besten unter dem Begriff der Zeichenwirkungen behandelt. Von Kurt Lewins galileischer Wissenschaftsmethode wird hier nicht nur der erste Schritt vom Substanzbegriff zum Funktionsbegriff, vom Zeichenobjekt zum Zeichengebrauch, vollzogen, sondern zusätzlich auch ein zweiter, einem positivistischen Wissenschaftsverständnis vielleicht schwerer zugänglicher. Sachverhalte werden hier nicht mehr für sich bestimmt, seien es materiale, das Zeichenobjekt, mentale oder virtuelle, die Zeichenbedeutungen, oder funktionelle, ihr Gebrauch oder Zweck. Sondern es wird wie im zweiten Ansatz von einem Komplex ausgegangen, in dem sich unterscheidbare Teile gegenseitig auf bestimmte Weise konstitutieren. Dabei interessiert, ob sich Typen von Komplexen erkennen und die gewonnenen Einsichten auf konkrete Fälle von Komplexen anwenden lassen. So verstanden verweist der Funktionsbegriff auf den Primat des Wirkungszusammenhangs vor den wirkenden und bewirkten Teilgebilden eines Systems. Zeichen, was immer das sei, werden aus Zeichen "geboren" und "erzeugen" ihrerseits Zeichen: in unendlich verzweigten Ketten oder Netzen (Peirce 1986ff.). Die Frage geht also nach der Rolle von Zeichen im Entstehen von Zeichen. Oder wir interessieren uns für einen Fall von Verursachung: jenem nämlich, der durch Zeichen getragen wird (vgl. Lang 1992 a, 1993).

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1. Was haben Psychologie und Semiotik miteinander zu tun?

Aus den geschilderten Denkmodellen der Semiotiker sollte deutlich geworden sein, dass Semiotiker überwiegend Zeichenprozesse im Rahmen von Modellen untersuchen, die durch zeichenwahrnehmende, zeichenverarbeitende und zeichenerzeugende Systeme konstituiert sind, bevorzugt durch Lebewesen und insbesondere Menschen. Nun sind das ungefähr jene Prozesse, welche die Psychologie als ihren Gegenstandsbereich reklamiert; und das sind normalerweise Prozesse unter Beteiligung von Zeichen.

Was der Psychologe seiner Versuchsperson vorsetzt, ob als physische und soziale Stimuli oder Situationen konzipiert, ist zeichenhaft hergestellt und wird von der Vp als mehr oder weniger zeichenhaft genommen. Auch in der Schlusslogik des Forschers vertritt es in gewisser Hinsicht Lebenssituationen. Und was der Forscher als Reaktion oder Handlung in der Versuchs- oder Datenbeschaffungssituation aufnimmt und dann für seine Schlüsse auswertet, ist ebenfalls zeichenhaft. Die Vp gibt, egal ob sie diese Sachlage durchschaut oder nicht, egal ob der Forscher sie thematisiert oder nicht, dem Forscher "Zeichen", die dieser als solche verwertet, indem er aus ihnen auf etwas anderes schliesst.

Auf diesem Hintergrund ist für mich als Semiotiker schwer verständlich, warum die meisten Psychologen die Semiotik weitgehend ignorieren, welche beansprucht, eine allgemeine Theorie der Rolle von Zeichen oder von informationsbezogenen Prozessen zu geben. Als Psychologe bin ich ähnlich bestürzt angesichts der Separatheit der beiden Felder bei so viel intrinsischer Gemeinsamkeit. Könnte man auf diese Sachlage nicht auch konstruktiv reagieren? Den Dialog mit Semiotikern suchen und sehen, ob nicht vielleicht wechselseitige Befruchtungen möglich seien und wie sie einzuleiten wären?

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2. Was haben Psychologie und Semiotik einander zu bieten?

Lassen Sie mich aus einer lange Liste von Punkten, in denen die beiden Wissenschaftsfelder mutmasslich voneinander gewinnen könnten, ein Schlüsselthema herausgreifen, die Frage nach einem adäquaten Verursachungskonzept. In dieser Frage sind Semiotiker der allgemeinen Systemtheorie oder neueren Entwicklungen in den Naturwissenschaften lange vorausgegangen (vgl. Lang 1993).

Charles S. Peirce (1839-1914, sprich "Pörß"), der wichtigste Begründer der modernen Semiotik verwarf mit guten Gründen seit 1867 den cartesianischen Dualismus ebenso wie den darauf reagierenden materialistischen Monismus und mithin den für weite Teile der Psychologie heute typischen Reduktionismus. Das Leib-Seele-Problem wurde ihm zum Scheinproblem, das Determinismusprinzip der notwendigen und zwingenden Verursachung zu einem Spezialfall in untypischen abgeschlossenen Systemen. Wir sollten es nicht auf offene Systeme übertragen (vgl. Peirce 1986ff oder Nagl 1992 und die dort erschlossenen Quellen).

Gewiss, wir begegnen Psychischem und Physischem und deren Vermischungen in unserer Intuition. Doch heisst das nicht, dass dies auch unsere Konstrukte bestimmen muss, weder materialistisch noch idealistisch noch dualistisch. Es besteht aber auch kein Zwang, auf rein nominalistische oder konstruktivistische Ansätze auszuweichen, welche die Formen des Bedingungszusammenhangs aus der Sache ausschliesslich in die Beobachter verlegen. Peirce schlägt vielmehr einen allgemeinen Verursachungsbegriff vor, welcher der Tatsache der Interpretation in der Welt selbst Rechnung trägt. Die Psychologie braucht einen solchen Bedingungsbegriff, welcher Gebilde wie Lebewesen oder Personen nicht als blosse Anpassungsprodukte an unabhängig von ihnen bestehende Situationen versteht, sondern ihnen zugleich erlaubt, in einem gewissen Ausmass "Geschichte zu machen".

Semiotik im Anschluss an Peirce leistet genau dies, indem sie eine allgemeine Darstellungsform und Verfahren des Schliessens anbietet, welche das Physische und das Psychische nicht ontologisch gegeneinander ausspielt. Wir sollten uns nicht davon beeindrucken lassen, wie die Dinge der Welt auf uns wirken, sondern untersuchen, wie sie einander bedingen, wissend, dass wir dies nur mit den uns eigenen Mitteln können. Peirce anerkennt den epistemischen Primat des "Geistes" (mind), setzt diesen aber nicht a priori, sondern geht ihn beobachtend an. "Phaneroskopisch", wie er sagt, oder vor aller Wissenschaft das uns Erscheinende sichtend, lassen sich allgemeine Wirkungsformen oder Kategorien bestimmen. Die semiotische Darstellungsform ist triadischer Natur, in dem Sinne, dass Zeichenhaftes nicht eine Sache, weder ein Objekt noch ein Subjekt, repräsentiert, sondern vielmehr die Relation zwischen Entitäten für weitere Relationsbildungen verfügbar macht. Nun meine ich, die Semiose sollte, obwohl logischen Charakters, anhand psychologischer Sachverhalte konkretisiert werden. Dies treibt die Semiotik begrifflich und methodisch weiter und bringt vielleicht auch neue Einsichten für die Psychologie. So können möglicherweise beidseits alte Denkgewohnheiten aufgebrochen und revidiert werden.

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3. Wie können Psychologie und Semiotik einander befruchten?

Ich habe Ihre Aufmerksamkeit vom gewohnheitsmässig dyadisch gefassten Zeichen-Bedeutungs-Begriff weg auf die triadische Semiose als Prozess gelenkt. In der Peirce-Morris Tradition der Semiotik, die einem kommunikationstheoretischen Semiosebegriff die zentrale Stelle einräumt, ist geläufig, dass eine Semiose drei Komponenten oder Instanzen umfasst: das Zeichen ieS oder den Zeichenträger, sein Objekt oder seinen Referenten, und seinen Interpretanten, der idR mit der Bedeutung des Zeichens gleichgesetzt wird. Nun ist allerdings die Durchführung dieser Konzeptionweder eindeutig noch allgemein genug.

Ich versuche dies anhand von Beispielen zu zeigen, die ich von Peirce übernehme (zB 1907, Ms 318, dt. 1993, fragmentarisch in CP 5.464-496). Ein Musikstück oder dessen Aufführung wird als ein Zeichen oder Repräsentamen gesehen, dessen Objekt in Absichten u.dgl. des Komponisten und Interpreten und dessen (emotionaler) Interpretant etwa in den Gefühlen des Hörer gesehen werden. Ein geäusserter Befehl eines Offiziers würde als ein Zeichen von dessen Befehlsabsicht als "Objekt" gesehen, sein (energetischer) Interpretant das von den Soldaten ausgeführte befohlene Verhalten. Ein Wort oder Satz oder Argument wird als Zeichen für dessen Gegenstand gesehen, einschliesslich des prädikativen oder argumentativen Zusammenhangs; der beim Verstehen resultierende (logische) Interpretant liegt in der vom Verstehenden realisierten Bedeutung.

Je mehr Beispiele ich psychologisch zu analysieren versuche, desto weniger kann ich sehen, wie solche Zuordnungen konsistent vollzogen werden können. Denn dieser Semiosebegriff erstreckt sich auf äusserst unterschiedliche psychische Bereiche, manchmal auf Wahrnehmung oder Verstehen beschränkt, manchmal auch Handlungen und deren Wirkungen einbeziehend. Er hat bereits bei Peirce zu schwer nachvollziehbaren begrifflichen Unterscheidungen geführt, beispielsweise zwischen dem dynamischen und dem unmittelbaren Objekt. Eigentlich wird in dieser Auffassung die von Peirce selbst so scharf kritisierte cartesianische Spaltung nicht wirklich aufgegeben, da einige Teile der Semiose zu leicht material, andere mental verstanden werden können.

So suche ich nach einem einfacheren Semiosekonzept. Ich glaube es darin gefunden zu haben, dass ich die typischen kommunikativen oder interaktiven Prozesse als semiosisch zusammengesetzt verstehe. Kommunikative Modelle der Semiose (die 3. Gruppe von Ansätzen aus der Einleitung) werden demnach zu besonderen Anwendungsfällen eines semiotischen Wirkungsmodells (die 4. Gruppe). Leiten lassen habe ich mich ich bei dieser psychologischen Analyse von Zeichenprozessen von Kurt Lewins Idee der Genesereihen und von Jakob von Uexkülls Funktionskreis. Hier kann ich diese Auffassung nur in groben Grundzügen darstellen (vgl. Lang 1992 a und b, 1993). Wie bei Peirce umfasst mein Begriff der Semiose das Ganze von drei prozesshaft und wechselwirkend aufeinander bezogenen Momenten, nämlich einer Quelle, einer Vermittlung und einer Resultante. Alle drei haben sowohl materiellen als auch geistigen Charakter; oder man verstehe sie besser als keines von beiden, weil sie ihre Rolle im Prozess weder als Materie-Energie, noch als "Geist", sondern als besonders geformte Gebilde oder Strukturen geltend machen.

Die Quelle bezeichne ich als den Referenten (REF), das ist jene Struktur, woran jede Semiose "ansetzt" und welche sie elaboriert. Für den Vermittler übernehme ich gemäss Peirces gelegentlichem Gebrauch und entsprechend dem Wortsinn den Ausdruck Interpretant (INT). Denn in der Semiose wird eine Ausgangsstruktur mit Hilfe eines bestimmten "Übersetzungs"systems in eine resultierende Struktur umgesetzt. Die Resultante ist damit das, was durch den Interpretanten auf den Referenten verweist. Ich nenne sie deshalb den Repräsentanten (REP)oder das Zeichen im engeren Sinn. Diese Triade ist nicht reduzierbar; alle drei Instanzen konstituieren einander in einer passiv-aktiven Doppelrolle. Man sollte mithin den Repräsentanten keinesfalls mit der (symbolischen) Repräsentation verwechseln. Ein Repräsentant vertritt nicht seinen Referenten, sondern er stellt das Wirkungspotential seines Referenten ausgewählt und vermittelt durch seinen Interpretanten auf seine Weise dar.

Peirces Beispiele erscheinen nun in dieser Auffassung als mannigfaltige Semiosenkomplexe oder -netze. So würde der militärische Befehl etwa sich als verzweigte Kette von mehreren Semiosen darstellen.

Deren erstes Glied ist mit der Befehlsintention des Offiziers (als Ref1) und seiner Sprechkompetenz (als Int1) und dem geäusserten Befehl (als Rep1) bestimmbar. Ich bezeichne sie als eine "nach aussen gehende" oder ExtrO-Semiose. Das zweite Glied führt diesen in bestimmter Weise geformten Schall (die Rep1 jetzt als Ref2 genommen) durch die Hör- und Verstehmöglichkeiten und -gewohnheiten einschliesslich der aktuellen Einstellungen (als Int2) bei jedem einzelnen Soldaten zu einer je besonderen momentanen Zuständlichkeit des Befehlempfangs (als Rep2). Hier muss die Semiosekette für jeden Soldaten gesondert untersucht werden, da sich die Semiose verzweigungt. Diese nach innen wirkenden Prozesse heissen IntrO-Semiose. Das dritte Glied lässt sich allgemein als ein verarbeitendes Semioseglied in der psychischen Organisation jedes Soldaten begreifen. Ich nenne dies eine IntrA-Semiose. Wenn wir nicht annehmen wollen, das geschehe rein reaktiv und zwingend in bestimmter Weise, so muss der Eingangszustand (Rep2, jetzt als Ref3) auf der Grundlage der gesamten kognitiven und motivationalen Voraussetzungen in jeder Soldatenperson (als Int3) in eine Befehlsausführungsbereitschaft (Rep3) umgesetzt werden. Damit meine ich einen Vorgang, der zwischen Routine und reflektierter Entscheidung variieren kann. Ähnliches ist natürlich der Fall gewesen beim Zustandekommen dessen, was als anfängliche Befehlsintention des Offiziers eingeführt wurde. Im vierten Semioseglied dieser verzweigten Ketten werden die Soldaten handeln, dh ihre je eigene Ausführungsbereitschaft (als Ref4) durch ihre motorischen Routinen (Int4) "interpretieren" oder vollziehen, dh das Gewehr ablegen, wie erwünscht oder anders, oder den Befehl verweigern u.dgl. (Rep4). Wir haben wiederum ExtrO-Semiosen, aber nun bei anderen Personen. Kommunikation erweist sich essentiell als eine Kette von zwei Semiosen mit unterscheidbaren Interpretanten und einem gemeinsamen Repräsentant-zu-Referent-Glied.

Jede Semiose ist in dieser Auffassung nichts anderes als ein Strukturbildungsprozess oder Anaformation. Semiosen bringen auf den Begriff, wie aus Strukturen unter Beteiligung zweiter Strukturen dritte Strukturen werden. Begegnungen einer Referentenstruktur mit einer Interpretantenstruktur bilden in einer Repräsentantenstrukur ein Potential, später oder anderswo unter geeigneten Bedingungen eine Wirkung verwandter Art auszuüben, dh in ihrer Genesereihe weitere Strukturen zu begründen.

Dabei ist nicht auszumachen, dass eine der drei Instanzen in irgendeiner Weise den andern über- oder untergeordnet wäre. Der Interpretant bestimmt den Referenten so gut wie umgekehrt, etwa indem der Interpretant an der für ihn spezifischen Konstitution des Referenten beteiligt ist. Im Beispiel wäre der geäusserte Befehl für irgendeinen anderen Interpretanten einfach ein Schall oder eine Luftvibration und nur für den sprachkompetenten Menschen ein Satz und nur für den befehlsgewohnten Soldaten eine bestimmte Aufforderung. Auch der Repräsentant "wirkt mit": der geäusserte Befehl bedarf zB der Möglichkeit, dass Luft durch Sprechmittel in eine geformte Vibration versetzt werden kann, die am Ohr von adressierten Empfängern ausreichend stark und unverzerrt ankommt. Man sollte das nicht für selbstverständlich halten; obwohl es zum Teil in morphologische und Verhaltensdispositionen eingegangen ist. Unterschiedliche Grade der Bestimmtheit von Semiosen durch ihre drei Instanzen sind natürlich möglich.

Alle drei an Semiosen beteiligten Teilstrukturen sind also intrinsisch miteinander verbunden und dürfen semiotisch nur zusammen behandelt werden. Empirisch sollen sie jedoch gesondert dargestellt und in ihrer Rolle in der Semiose(kette) aufgewiesen werden. Das geht nicht anders als mittels Semiosen in Nebenzweigen, in denen der Forscher und seine Methoden als Interpretanten fungieren.

Der vorgestellte elementare Semiosebegriff impliziert eine triadischeVerursachungskonzeption, welche anders die dyadische (notwendige und zwingende) Kausation offene Bedingungszusammenhänge betrifft und damit sowohl der Neuheit wie der Systematik von Entwicklung gerecht werden kann. Denn die Rep-Strukturen implizieren "Gedächtnis", das als Ref oder Int in neuen Semiosen wirksam werden kann. Der deterministische Kausationsbegriff erscheint als Grenzfall der Semiose dann, wenn die Bestimmungsstärke eines Repräsentanten durch einen Interpretanten gegen null geht und mithin ganz beim Referenten liegt.

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3.1 Wahrnehmung und Handlung lassen sich semiotisch analog begreifen

Betrachten wir nun als Beispiel der Anwendungung dieses Konzepts zuerst eine ExtrO-Semiose. Sie wird in der Semiotik wie in der Psychologie zugunsten der interpretativen Semiose merkwürdig vernachlässigt. Die Herstellung von Zeichen ist aber natürlich die Voraussetzung ihrer Interpretation. In der Tat ist Semiose in meiner Auffassung gleichbedeutend mit der Generierung von neuen Zeichen durch schon bestehende Zeichen. Referent und Interpretant sind die einzigen Bedingungen eines Repräsentanten. Im Regelfalls sind sie ihrerseits in anderen Semiosen als Repräsentanten entstanden. Die Ausnahmen davon, Anzeichen oder Symptome, sind nicht als solche schon zeichenhaft; sie werden es erst als Referenten in Semiosen.

Mein bevorzugtes Paradigma der Semiose ist demnach die Handlung, oder allgemein der semiosische Akt, in welchem oder durch welchen bei gegebenen Vorbedingungen (Ref) und und aktualisierten Vollzugsmöglichkeiten (Int) eine kleine oder grosse, vorübergehende oder andauernde Veränderung der Welterzeugt wird (Rep). Diese ist grundsätzlich ein "Angebot", an welches, als Referent umgedeutet, durch geeignete Interpretanten weitere Semiosen anschliessen können. Das führt zu einem Handlungsbegriff mit Betonung der Handlungswirkungen (vgl. Lang 1993).

Betrachten wir nun auch einen perzeptiven oder rezeptiven Akt in semiotischer Hinsicht. Es wird vielleicht verblüffen, wenn ich behaupte, dass Wahrnehmung oder IntrO-Semiose, elementarsemiotisch gesehen, genau den gleichen Aufbau aufweist wie die produktive, vom Individuum nach aussen wirkende ExtrO-Semiose.

Das perzeptive Subsystem einer Person in einem gegebenen aktuellen Zustand wirkt semiotisch als Interpretant. Dieser wird von einer aktuellen Umgebungssituation in bestimmter Weise betroffen oder orientiert sich auf einen Ausschnitt der Umgebung der Person (als Ref) und bildet daraufhin einen zentraleren Subprozess oder Zustand, den wir ein Perzept nennen können und der als Repräsentant diese Mensch-Umgebungs-Begegnung darstellt. Wie immer man nun dieses Perzept begreifen will, als flüchtig oder überdauerndes Gedächtnis, als elementares Item oder als Bestandteil übergreifender Strukturen, als etwas das bleibt wie es hereinkommt oder als etwas das mit Vorbestehendem und mit Nachherkommendem neue Synthesen eingeht, etc., etc. -- man kann nicht umhin, Perzepte einerseits als mit einer physischen Spur verbunden zu denken; anderseits wird man geltend machen, dass sich die Wirkungsweise dieser Sache in ihren materiellen Eigenschaften nicht erschöpft.

Denn über Wahrnehmung erfährt man ja kaum etwas durch Analyse der betroffenen Hirnpartien, weil diese überall in gleicher Weise funktionieren. So wenig wie man Häusern oder Geldstücken ansehen kann, was sie alles vermögen. Wohl aber, wenn man das, was aus perzeptiven Prozessen im Mind-Brain resultiert, in neuen Semiosen zu neuen Wirkungen in Form von zeichenproduktiven Akten bringen kann. Dem entspricht, dass man Häuser und Geld nur in ihrem Umgang mit Menschen verstehen kann. Begreift man das Perzept als zeichenhaft, als Repräsentant einer perzeptiven Semiose, die ihrerseits als Referent in weitere IntrA- und ExtrO-Semiosen eingehen kann, so ist zumindest eine übergreifende und weiterführende Beschreibungssprache dieser Verhältnisse gewonnen.

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3.2 Die Elementar-Semiose beschreibt das Verhältnis von psychischen Strukturen und Prozessen

Dieser Gedanke der Semiose als Strukturbildung läst sich weiterspinnen. Die gesamte psychische Organisation versteht sich so als ein phylo- und ontogenetisch in bestimmter Weise aufgebauter Repräsentanten-Komplex, der in Teilen für perzeptive Semiosen als Interpretant und in Teilen für aktionale Semiosen als Interpretant und als Referent fungieren, vor allem aber durch interne Systemgliederung auch mit sich selbst semiosisch "dialogisieren" kann.

Was so als Semiose zunächst prozesshaft erfasst ist, impliziert den zeitüberdauernden Charakter der psychischen Organisation, verweist auf in bestimmter Weise geformte Substanz und ein Kräftepotential oder dynamisches Gedächtnis. Was mich nun bei dieser Betrachtungsweise als Psychologe besonders fasziniert, ist die Möglichkeit, Prozesse und Strukturen als zwei Aspekte desselben zu verstehen, ganz anders als dies etwa in Denkmodellen wie der Computer-Metapher mit ihrer Trennung von Prozessor und Ablage der Fall ist. Nichtseparierende Vorstellungen werden immerhin in neuronalen oder PDP-Netzmodellen aufgenommen.

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3.3 Die Kultur ist ein person-externer Teil der psychologischen Organisation

Ausser Denkgewohnheiten spricht nichts dagegen, dieselbe Betrachtung auch auf äussere Strukturbildungen anzuwenden. Extro-Semiosen kreieren zeichenhafte Strukturen in der Umgebung jedes Handelnden und diese stehen ihm selbst anschliessend oder zu einem späteren Zeitpunkt ähnlich wie seine Binnenstrukturen für weitere Semiosen zur Verfügung und bestimmen damit zweifellos sein Tun und Werden. Darüberhinaus stehen externe Strukturen auch anderen Individuen, die über ähnliche Interpretanten verfügen, als potentielle Referenten bereit.

Ob semiosische Repräsentantenim oder am Organismus oder ausserhalb aufgebaut oder ob semiosische Referenten interner oder externer Provenienz semiosisch aufgenommen und intern weiterentwickelt werden, kann keinen grundsätzlichen Unterschied für die Konstitution von Lebewesen ausmachen. Externale Referenten und Repräsentanten sind freilich für jedes Sozialsystem unabdingbar und differenziertere Lebewesen sind nicht ohne solche denkbar. Die hohe Flexibilität im Gebrauch externer Strukturen zeichnet den Menschen vor allen anderen aus. Unser Wissen haben wir teils im Kopf, teils in Bibliotheken und in irgendwelche Kulturgegenständen von den gebauten Strukturen bis zu den kleinen Dingen des Alltags inkorporiert und können es in beiden Fällen zu weiteren Wirkungen bringen.

Verteilte Strukturbildung als Basis sozialen Handelns und eigener Entwicklung ist jedoch nicht erst eine Erfindung des sog. "Geistes". Morphologisch und Ethologisch evolutionierten solche Strukturen früh in der Phylogenese teils in und an den Organismen, teils ausserhalb. Zeugen sind etwa die analogen Eier, Uteri, Bruttaschen, Höhlen, Nester und Kinderstuben zur Nachwuchsaufzucht oder die Duftmarken, Pheromone, Imponiergehaben, Federkleider und die abertausend Dinge der Menschen zur Beeinflussung seiner selbst und der andern im sozialen System. Die Semiotik gibt die Möglichkeit, in gleichartigen Begriffen zu fassen, was phänomenal so verschieden sein kann. Dass die Kultur gegenüber Morphologie und Instinkten eine gewaltige Erweiterung der Möglichkeiten bringt, ist unbestritten.

 

3.4 Semiosen konstituieren , was wir "Subjekt" nennen; sie müssen es nicht voraussetzen

Wie Peirce mehrfach gezeigt hat (zB 1906, Ms 318, dt. in 1993), setzt diese Auffassung kein Subjekt im üblichen Sinn voraus, ist hingegen geeignet, die Konstitution von konsistent agierenden Gebilden zu erklären. Es ist zu einer merkwürdige Selbstverständlichkeit modernen abendländischen Denkens und der modernen Psychologie geworden, dass individuelle Personen als Subjekte geradezu exklusiv vorausgesetzt werden. Zwar fragt die Entwicklungspsychologie nach deren Veränderung im Lebenslauf; aber ihre initiale Konstitutiertheit wird als gegeben betrachtet. Empirisch ist sie freilich noch dunkler als der Beginn des Lebens. Viele Semiotiker haben im Anschluss an Morris den Peirceschen Interpretanten als einer semiosischen Instanz mit dem Interpreten als einer individuellen Person gleichgesetzt und damit diesen für die Psychologie so bedeutenden Vorschlag beinahe ein Jahrhundert lang verstellt. Nun beginnen moderne Peirce-Interpreten wie Singer oder Colapietro (1989) mit seiner Wiederaufnahme. Fasst man die Person in ihrer Kultur als ganze mit Peirce als eine semiosische Struktur, so kommt das Verständnis ihres Werdens ohne die cartesianische Vorannahme aus.

 "A person is, in truth, like a cluster of stars, which appears to be one star when viewed with the naked eye, but which scanned with the telescope of scientific psychology is found on the one hand, to be multiple within itself, and on the other hand to have no absolute demarcation from a neighhouring condensation." (Peirce 1893, Ms. 403)

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Literatur

Colapietro, Vincent M. (1989) Peirce's approach to the self: a semiotic perspective on human subjectivity. New York, State Univ. Press.

Lang, Alfred (1992 a) Die Frage nach den psychologischen Genesereihen -- Kurt Lewins grosse Herausforderung. Pp. 39-68 in: Schönpflug, W. (Ed.) Kurt Lewin -- Person, Werk, Umfeld: historische Rekonstruktion und Interpretation aus Anlass seines hundersten Geburtstages. Beiträge zur Geschichte der Psychologie Bd. 5. Frankfurt a.M., Peter Lang.

Lang, Alfred (1992 b) Kultur als 'externe Seele' -- eine semiotisch-ökologische Perspektive. (Beiträge zum 2. Symposium der Gesellschaft für Kulturpsychologie, Mittersill, 9.-12.5.91.) Pp. 11-32 in: Allesch, Chr.; Billmann-Mahecha, E. & Lang, A. (Eds.) Psychologische Aspekte des kulturellen Wandels. Wien, Verlag des Verbandes der wissenschaftlichen Gesellschaften Österreichs.

Lang, Alfred (i.D. 1993) Zeichen nach innen, Zeichen nach aussen -- eine semiotisch-ökologische Psychologie als Kulturwissenschaft. In: Rusterholz, Peter & Svilar, Maja (Eds.) Welt der Zeichen -- Welt der Wirklichkeit. Bern, Paul Haupt.

Nagl, Ludwig (1992) Charles Sanders Peirce. Reihe Campus Einführungen Bd. 1053. Frankfurt a.M., Campus.

Peirce, Charles S. (1986, 1990, 1993) Semiotische Schriften. (Übersetzt und herausgegeben von Chr. Kloesel und H. Pape, mit Einleitungen von Helmut Pape.) 3 Bände. Frankfurt a.M., Suhrkamp. (Der Verf. dankt H. Pape für die freundliche Überlassung der Typoskripte zu Band III.)

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