Alfred Lang

University of Bern, Switzerland

Magazine Article 1992  

Jenseits vom Kosten-Nutzen-Saldo -- Europa-Anliegen mit Kopf und Herz

1992.05

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Unipress (Bern) Nr. 74 vom Oktober 1992. 28-31 Pp.

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Man kann sich des Eindrucks schwer erwehren, die Diskussionen zur Europafrage in Presse und Medien - und mehr noch die Deklarationen im Parlament - drehten sich vor allem um wirtschaftliche Vor- und Nachteile. Der Bauch grollt (aus Besitzstandverlustangst) und giert (wer hat, will immer mehr).

Aber es geht hier doch um Elemente einer Jahrhundertentscheidung! Müsste nicht eine längerfristige Perspektive schwerer wiegen? Ob das Bruttosozialprodukt in diesen Jahrzehnten um ein paar Prozent gewachsen oder gesunken sein wird, ob diese oder jene Wohlfahrtserrungenschaft hinzugewonnen oder reduziert werden musste, wieviel Promille welchen Schadstoffs ein paar Jahre früher oder später ausgemerzt werden konnten: danach wird doch später kein Mensch mehr fragen. Hingegen werden uns unsere Enkel und Enkelsenkel danach beurteilen, ob wir mit dieser Entscheidung eine kollektive Existenz, eine generationenüberdauernde Identität -- nämlich die ihre zusammen mit der unseren und derjenigen unserer gemeinsamen Vorfahren und Nachkommen -- für ein paar Silberlinge aufs Spiel gesetzt oder erhalten haben.

Übergreifende Gesichtspunkte sehe ich in drei Bereichen, (a) der ökonomisch-ökologischen Weltlage , (b) dem Problem der persönlichen und sozialen Identität und (c) der Art und Weise des öffentlichen Handelns, dh der Politik . Zum Abschlluss soll von einer einseitigen Menschenrechtslag e die Rede sein. Ich gestatte mir prononcierte Formulierungen ausgewählter Aspekte daraus.

Erdverträgliche Weltwirtschaft

Die zur Debatte stehenden europäischen Strukturen EWR und EG folgen der Wachstumsphilosophie der westlichen Moderne. Der Plan zur "Neuen Alpen-Transversale" (NEAT) erscheint als eine der bezeichnendsten Einzelmanifestationen dieses Geistes. Eine vorhergesagte oder herbeigewünschte Verdoppelung des Verkehrsvolumens in 20 Jahren soll von der Strasse auf die Schiene umgeleitet werden.

Was für Illusionen erliegen wir da! Für beide Transportarten wird in der Summe grob die gleiche verdoppelte Energiemenge benötigt; ob die eine etwas "sauberer" ist als die andere, macht global einen kleinen Unterschied. Was heute not tut, ist aber eine radikale Reduktion des Ressourcenverbrauchs. Es geht um einen Schatz, den wir unseren Nachkommen nicht nur wegnehmen, sondern durch dessen Umsatz wir sie zusätzlich den Risiken der Erderwärmung und der Erdverstrahlung aussetzen und ihnen eine klimatisch turbulente, chemisch verseuchte und biologisch verarmte Umwelt hinterlassen. Europäischer Binnenmarkt und Wirtschaftsgemeinschaft haben zum Zweck, hunderte und tausende solcher stoff- und energieumsatzvermehrender Projekte auszulösen und zu intensivieren. Dies in einer Zeit, wo Gegensteuer überfällig ist: nämlich am Point of No Return.

Staatliche Organisation haben Menschen dazu aufgebaut, um Individuen und Gruppen vor Katastrophen zu schützen, gegen wilde Natur und böse Menschen, gegen Übergriffe der Nachbarn und Überfälle von Fremden. Wenn nun staatliche Massnahmen -- und das sind doch wohl Staatsverträge und überstaatliche Zusammenschlüsse -- eigens dazu entworfen und benützt werden, um eine globale Katastrophe wahrscheinlicher zu machen und rascher herbeizuführen, so sind die Bürger dieser Staaten aufgerufen, solches zu verhindern. Überdies ist nicht einzusehen, warum ausgerechnet ein Kleinstaat eine derart überdimensionierte Investition tätigen soll, die eingestandenermassen auf dem freien Markt keine Chance hätte.

Aber auch dieser Kleinstaat leidet offenbar am Olympiasyndrom verbunden mit Grössenwahn. Während Jahrzehnten unter den Erfolgreichsten und in mancher Hinsicht der Erste, kann er es schwer ertragen, ins -- immer noch vorzügliche -- Mittelmass abzusinken. Dabei könnte man gerade aus den Privilegien, deren wir Schweizer uns heute erfreuen, die Verpflichtung ableiten, der industrialisierten Welt ein Zeichen zur Umkehr zu geben.

Die Jahrtausendwende allerspätestens ist die Zeit zur Einleitung von Stabilisierungen, weltweit, und nicht zum Weiterwachsen von Teilen auf Kosten anderer. Die Politiker sind aufgerufen, Prozesse zu planen und in Gang zu bringen, die den weltweiten Wettbewerb um die Medaillen des Wachstums des Ressourcenverbrauchs und der Bevölkerungen beenden und humanere Formen des Zusammenlebens fördern. Wenn einige immer noch mehr zu gewinnen versuchen, werden alle verlieren.

Ein Menschenbild von gestern

Ebenso bedenkliche Folgen des "Brüsseler" Programms sehe ich auf der psycho-sozio-kulturellen Ebene. Denn eigentlich stehen anthropologische Grundfragen zur Klärung, wenn wir an der Oberfläche über ökonomisch-ökologische oder über politische Entwicklungsrichtungen streiten.

Aus den Ergebnissen der biologischen und kulturbezogenen Wissenschaften, lassen sich Folgerungen ziehen, welche jenen Grundannahmen über den Menschen radikal widersprechen, wie sie die westliche Zivilisation der vergangenen Jahrhunderte angeleitet haben und auch die Fortschrittsgläubigkeit der europäischen Planer bestimmen.

Zum Beispiel lässt sich unzweifelhaft feststellen, dass der Mensch nicht länger als ausserhalb der Natur stehend, als ein mit ihrer Ausnutzung zu seinen Gunsten "Beauftragter" oder gar als ihr "vernünftiger Beherrscher" verstanden werden kann. Vielmehr ist er Teil der Natur, und damit ein sowohl in ihr agierendes wie ein von ihr betroffenes Glied eines äusserst heiklen evolutionären Gleichgewichts. Durch seine kulturelle Natur, seine Fähigkeit zum Symbolgebrauch, zur Herstellung von Dingen (im weitesten Sinn), und damit zum gemeinschaftlichen und vorausschauenden Handeln, verfügt er freilich nicht nur über die Möglichkeit des gezielten Weltveränderns sondern wird auch zum Träger der Verantwortung für deren Folgen. Die systematische Missachtung solcher Tatsachen hat Mensch und Natur an den Rand ihrer Selbstzerstörung geführt.

Denn das "moderne" Menschenbild geht von der Annahme aus, die Existenz des Menschen sei vorab eine individuelle, seine Vitalität lasse sich durch Vernunft lenken, und seine Eingliederung in soziale Systeme sei eine rein zweckdienliche Zutat, Herstellung und Gebrauch von Dingen bloss instrumentell, nach Bedarf und Belieben machbar.

Dementsprechend setzt der "moderne" Europäer auf das mobile, aus allen sozialen Bindungen befreite Individuum, das sich der verschiedenen Techniken, des Geldes und des Transports nach seinen Wünschen bedient und seine Mitmenschen in immer weiter getriebener Spezialisierung und Arbeitsteiligkeit für zweckdienliche Dienstleistungen zu all dem einsetzt, was es selber nicht gelernt hat. Das Programm der vier Freizügigkeiten ist eine Perfektionierung dieses "modernen" Umgangs mit dem Menschen, indem es ihn "vereinzelt" und in Arbeit und Freizeit einspannt in die Produktion und den Konsum von Waren und Programmen.

Wir verschafften uns damit zweifellos ein komfortables Leben. Doch macht uns die Zivilisationsmaschine je länger je abhängiger, zwar nicht mehr so sehr von einzelnen Machthabern als von einer Vielzahl von anonymen Instanzen einschliesslich unserer eigenen Begierden unter dem Konformitätsdruck der andern. Das Befreiungsprogramm der Aufklärung ist in sein Gegenteil pervertiert. Aus den intendierten mündigen Subjekten ihrer selbst sind Objekte von technischen, wirtschaftlichen und juristischen Mechanismen geworden. Immer mehr leiden wir am Zurückbleiben der Kultur der Personen hinter der übersteigerten "Kultur" der Dinge - und nun will man der Kultur der Dinge und Programme noch einen weiteren massiven Dreh versetzen und alle Sorten von Dingen europaweit herstellen und verbreiten.

Mit der europa- und weltweiten Normierung und Streuung der Dinge nehmen wir ihnen aber genau ihren eigentlichen Sinn. Denn ohne sie wären wir nicht nur ärmer und weniger tüchtig. Sondern wir wären ohne persönliche und soziale Identität, welche das Ensemble der zu uns selbst gehörenden Dinge trägt. Wir wären keine Menschen mehr, würden zu verlorenen Einzelwesen, ohne Einfluss auf gemeinsames Handeln und damit auch ausserhalb der Verantwortung dafür.

Denn mit der Kultivation ihrer eigenen und einmaligen Umwelt wird jede Menschengruppe zu dem, was sie ist und werden möchte, und damit kann sie ihre Identität allen andern auf einfachste Weise zeigen und sich von den andern unterscheiden. Es hat doch gute Gründe, dass wir so sehnsüchtig reisen und Städte und Ensembles von Dingen bewundern, durch welche sich fremde, und meistens gefährdete oder vergangene, Kulturen verwirklichten und ausdrücken.

Politik auch von unten her

Staatliche Einrichtungen - eine besondere Form dieser eigenen Kultur einer Gruppe - seien dazu erfunden worden, habe ich gesagt, um Menschen vor ihresgleichen zu schützen und die Folgen von unvermeidlichen Katastrophen zu mildern. Natürlich muss man solche Aufgaben an Personen und Institutionen delegieren: Regierungen und Parlamente, Verwaltungen und Justizsysteme sind gängige Delegationsformen. Nun ist es immer schon so gewesen, dass man den Delegierten für ihren Einsatz im Allgemeininteresse etwas bieten muss, und dass diese aber ihren Auftrag leicht und gern als Gelegenheit zur Bereicherung ihrer selbst und ihrer Unterstützer missverstehen und weidlich zu nutzen wissen. Naturgemäss ist das Verhältnis zwischen Delegierenden und Delegierten deswegen ein gespanntes. Allzuoft spielt auch "Selbstdelegation" mit, und die Delegierten tun mehr als dem Ganzen wohl bekommt.

Die Eidgenossen im Alpenland haben nun, so weit ich das überschaue, ein System gepflegt, das mit einem gewissen Erfolg wenigstens über gewisse Zeiten Delegierte und Delegierende näher beieinander halten konnte, als dies in den meisten europäischen Staaten in der Geschichte der Fall gewesen ist. Dafür wurden wir bewundert und benieden, natürlich nicht immer zu recht. Heute scheint das bei uns nur mehr bedingt der Fall zu sein, und in anderen Republiken hat man eine gewisse Kontrolle von unten her ebenfalls errungen.

Man muss nun wohl klar sehen, dass Einfluss von unten in einem wirtschaftlich und erst recht in einem monetär und politisch vereinigten Europa keine rechte Chance mehr haben würde. Denn die hierzulande bevorzugte Art des öffentlichen Lebens beruht darauf, dass Delegierte und Delegierende miteinander in einer Zweiweg-Interaktion bleiben. Impulse und Kontrolle von unten und von oben sollen sich langfristig die Waage halten. Von einer gewissen Grösse der politischen Einheit an ist das kaum mehr möglich sondern auf das plumpe Alles-oder-Nichts-Prinzip der Wiederwahl oder des Referendums reduziert. Schon in der kleinen Schweiz ist der Stimmzettel mehr zu einer Notbremse geworden.

Selbstverständlich gibt es Aufgaben, welche Delegationen in einen grösseren geographischen Kreis als eine funktionierende Republik erfordern. In der EG hat man mit Recht erkannt, dass eine europäische Republik nach dem Modell der Nationalstaaten nicht funktionieren kann; aber Alternativen sind noch nicht entwickelt, und die gegenwärtigen Ersatzlösungen sind, wie die Verhandlungs- und Regulierungsstrategien der EG-Organe zeigen, wenig vertrauenerweckend.

Freiheit von Entfaltungswirkungen

Mit der Verwirklichung seiner Freizügigkeiten eröffnet das "Brüsseler" Programm den individuellen Entfaltungswünschen einmal mehr erweiterte Realisierungschancen. Es ist das Programm des individualisierten und programmierten und dabei vielfältig manipulierten und mobilisierten Individuums, das zwecks Selbstverwirklichung die Umwelt übernutzt und sich einbildet, er hätte alles, einschliesslich seiner selbst, in seiner Hand. Gibt es aber ein Recht auf individuelle Entfaltung, dann muss es auch ein Recht geben, den Nebenwirkungen der Entfaltungstätigkeiten anderer zu entgehen. Die Freiheit zur Entfaltung muss vom Menschenrecht auf Freiheit von Entfaltungswirkungen begrenzt werden. Die Logik der Aufklärung hat hier einseitig den "Fortschritt" bevorzugt.

In unserer Rechtsordnung setzen wir die Grenze der Freiheit an der manifesten leiblichen und materiellen Integrität der anderen und ergänzen dies durch schwache allgemeine Regeln wie Privatbereichsschutz und Immissionsgrenzwerte. Die enorme Ausweitung der Entfaltungstätigkeiten durch das "Brüsseler" Programm wird, so glaube ich, demonstrieren, dass dies nicht ausreicht. Wir werden, wenn es Tatsache werden sollte, eine ungeheure und sehr schmerzhafte Aufschaukelung von Entfaltungs- und Vermeidungsansprüchen erleben. Die Rechte derer, die etwas wollen, werden mit den Ansprüchen derer, die jenen Entfaltungsabfall nicht schlucken wollen oder können, ins Gleichgewicht gebracht werden müssen.

Heute haben wir Schweizer Wahlfreiheit zwischen zwei Optionen: wir können uns entweder der in dieser modernen Spätzeit derzeit von den meisten Regierenden erhofften europäischen Entwicklung unterziehen, oder wir können in eine Warteposition gehen und dazu vernehmlich und deutlich erklären, dass längerfristig ein klügeres und menschlicheres Europa erarbeitet werden soll, und in entsprechenden Bewegungen aktiver werden. Wer behauptet, es gebe keine Wahl, gibt die Würde des Menschseins zum vornherein auf. Denn diese besteht darin, Optionen zu prüfen und die bestmögliche zu wählen.

Gibt uns die europäische Entwicklung recht, indem immer mehr Menschen diese andere Seite ihrer Menschenrechte geltend machen, so werden wir später in einer künftigen Föderation der europäischen Regionen noch willkommener sein als heute. Lässt uns der europäische Gang der Dinge im Stich, geben die Europäer dem Bauch vor Kopf und Herz den Vorzug, so werden wir auch später noch anklopfen können. Nicht nur wird eine künftige "Europäische Union" (EU) den Alpendurchgang immer noch brauchen, und die kleinen Staaten werden, wenn sie dann noch als solche existieren, schon aus Selbsterhaltung sich für uns einsetzen. Sie müssten ja sonst mit ähnlicher Arroganz der zentralen Instanzen ihnen gegenüber rechnen, wenn die "EU" die Alpenrepublik ächten und bestrafen wollte.

Vielleicht hat noch nie eine Zeit ihre Lebensbedingungen schlechter verstanden als die unsere, obwohl sie ein Vielfaches darüber darüber weiss als jede frühere. Sind unsere regierenden Delegierten deshalb so leichtfertig bereit, mit uns zu experimentieren, oder tun sie es aus einfacher Ruchlosigkeit ihres Ehrgeizes? Im Wissen, dass man mit Argumenten gegen drohenden Besitzstandverlust fast jede und jeden auch für verrückteste Zwecke einnehmen kann, wenn man nur Angst durch Hoffnung zu ersetzen verspricht? Können wir die Gier unserer Bäuche mit den Analysen unserer Köpfe und der Sehnsucht unserer Herzen für eine menschenwürdigere Welt bezwingen?

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