Alfred Lang

University of Bern, Switzerland

Newspaper Contribution 1990

Auch die heutige Schule ist so «kindgerecht» wie möglich

1990.12

@Edu

16 / 22 KB  Last revised 98.11.14

Berner Zeitung vom 23. Januar 1990, S. 28

[In eckigen Klammern die von der Redaktion ohne Rücksprache vorgenommenen Kürzungen]

© 1998 by Alfred Lang

info@langpapers.org

Scientific and educational use permitted

Home ||

 

Die Diskussion um das Schulmodell 6/3 ist ein Streit um des «Teufels Bart». Niemand weiss, wie er aussieht und was er bewirkt. Es werden oft ebenso hochgestochene Heilshoffnungen in zwei verlagerte Schuljahre gesteckt wie Weltuntergangsbefürchtungen daran geknüpft. Als Sachverständiger für menschliche Entwicklung im allgemeinen habe ich daher mit einer gewissen Neugier die Abstimmungsvorlage genauer gelesen.

[Will man eine Institution reorganisieren, so muss man sich fragen, was man erreichen will und welche Mittel dazu geeignet sind. In der Vorlage finden sich pädagogische, regionalpolitische und koordinationspolitische Begründungen. In der Tat ist gesamtschweizerisch die fünf- oder sechsjährige Grundschule weit verbreitet, und zwei zusätzliche Klassen werten vielleicht da und dort die Dorfschule auf. Aber kann man eine Reorganisation der Schule rechtfertigen, wenn nicht auch (a) bildungspolitische Zielsetzungen dafür sprechen, (b) pädagogische Mittel zu ihrer Realisierung aufgezeigt werden können und (c) beides in Einklang mit den psychologischen Tatsachen der menschlichen Entwicklung steht.]

Der Gesetzestext sieht als einziges Ziel vor, «während des fünften und sechsten Schuljahres... die Eignung des Schülers für die weitere Schulung durch besondere Massnahmen abzuklären». Dem Parlament ist es offenbar nicht nur nicht gelungen, auch über die Schülerinnen eine Aussage zu machen; sondern es hat auch darauf verzichtet, die Tatsache des Werdens von Eignungen in Betracht zu ziehen. [Alles andere ist rein administrativ. Eine bildungspolitische Ziel- oder Akzentsetzung kann man das sicher nicht nennen.]

Nach dem Abstimmungsheftchen soll die Schule aus «pädagogischen Gründen» durch das Hinausschieben des Ubertrittzeitpunkts «dem Kinde gerecht(er)» werden. Auch sollen «die besonderen Neigungen, Fähigkeiten und Verhaltensweisen der Kinder besser erkannt und gefördert», die «übertriebene Konkurrenz unter den Kindern» vermindert und «die Zusammenarbeit, Solidarität und Kameradschaft» verbessert werden. «Die Intelligenz der Kinder entwickelt sich im Alter von zehn bis zwölf Jahren stark, so dass eine Selektion vor dem 6. Schuljahr nicht sinnvoll ist.»

Mit Verlaub: Die geistigen (und übrigens auch andere) Fähigkeiten verändern sowohl vor 10 wie nach 12 Jahren «stark». Entwicklung kommt nicht mit 12 zu einem Abschluss, welcher eine Selektion für die künftige Laufbahn besser rechtfertigen könnte als mit 10 Jahren. vorausgesetzt, dass Angebote und Beurteilungen flexibel genug sind, um die Windungen des Weges jedes Kindes zu begleiten. [Mit der gleichen Begründungslogik könnte man den Übertrittszeitpunkt zwei oder drei weitere Jahre hinausschieben, um dann auch wieder feststellen zu müssen, dass manche Kinder für definitive Entscheidungen über ihren Lebensweg noch immer nicht reif sind.]

Ich darf doch davon ausgehen dass die Schule schon bisher so «kindgerecht» wie möglich war und den Schülern ohne Rücksicht auf Herkunft die ihnen angemessenen Bildungschancen angeboten und dabei auch Zusammenarbeit gepflegt und gerecht für die weiterbildenden Schulen ausgelesen hat. Nichts gegen bessere Pädagogik; aber dafür braucht es kein neues «Schulmodell».

Aus den angegebenen Begründungen kann ich vier Reformziele herauslesen, die ich nun kommentieren will:

(1) Dem «Kind gerecht werden». Das könnte wohl nur als Ziel gelten, wenn angegeben würde, was denn «kindgerecht» eigentlich sei. Ich habe Erläuterungen dazu vergeblich gesucht. Sehr froh darüber bin ich, dass die Vorlage nicht mehr dem für die siebziger Jahre typischen Wahn der Machbarkeit des Menschen durch Bildung verfallen ist; dennoch brauchen Kinder mehr als ein geschütztes Vakuum. Und soll denn Schule wirklich nur dem Kind gerecht werden? Soll sie nicht einen Beitrag dazu leisten, dass aus dem Kind ein lebenstauglicher Mensch wird? [Sollte sie also nicht sowohl dem Kind als auch der Gesellschaft, von der es ein Teil ist und wird, gerecht werden?]

(2) Man kann «Kindgerechtigkeit» auch als Angemessenheit an das Individaum» verstehen. Ich muss mich hier auf die Frage beschränken, ob wir wirklich j etzt eine Schulreform brauchen, welche die Individualisierung unserer Gesellschaft ausdrücklich noch weiter fördert? Die grundsätzliche Anerkennung der Einmaligkeit, der Würde, der relativen Eigenständigkeit und der vergleichbaren Startchancen jedes einzelnen Individuums ist zweifellos eine der grossen Errungenschaften der abendländischen Zivilisation. In den letzten zwei bis drei Jahrzehnten ist aber erkennbar geworden, dass der tatsächliche Vollzug der Einmaligkeit jedes Individuums (sprich: die uneingeschränkte «Selbstverwirklichung») unter den Voraussetzungen der Industriegesellschaft zur Zerstörung der Lebensgrundlagen aller zu führen droht. Schule ist nicht zur Förderung der Individualisierung, sondern zur Stärkung des sozialen Verbands erfunden worden. Erreicht man das dadurch. dass man Kinder, die längst unterschiedliche Interessen, Kompetenzen und Mitteilungsweisen entwickelt haben, zwangsweise zwei Jahre länger zusammensperrt und dort «individualisiert» unterrichtet? Der 6/3-Modellvorschlag, wie er als kindgerechte Individualisierungsförderung begründet wird, ist seinen Mitteln nach ein recht problematischer Sozialisierungsversuch. [Eine Entscheidung von so grundsätzlicher Tragweite sollte überdies in einer Demokratie als bildungspolitische Zielsetzung klargestellt und nicht in einer Schulorganisationsfrage verpackt und versteckt werden.]

(3) Das dritte Ziel ist eine verlässlichere und gerechtere Auslese. «Verlässlich» heisst normalerweise endgültig, nicht mehr der Korrektur bedürftig. Aber das kann doch nicht ein Ziel sein für eine offene Gesellschaft, welche die Einmaligkeit jedes Individuums über fast alles andere zu stellen gewillt ist und mit der gleichen Vorlage seiner Individualität gerechter werden will. Sortiert man denn Kinder nach schulischen Kriterien wie Kartoffeln nach ihrer Grösse, wenn sie ausgewachsen sind? Sind denn Menschen nicht Wesen in ständiger, lebenslanger Entwicklung, die aus einem je eigenen Keim in einer gegebenen sozialen und kulturellen Umwelt fortwährend ihre eigene Gestalt finden müssen? Dann darf man doch in heiklen Phasen - und dazu muss man wohl die ganze Kindheit, besonders die Pubertät zählen - nicht einmalige Verzweigungs-Entscheidungen treffen! Erwünscht wäre ein Angebot eines Gefüges von verschiedenen Wegen zu verschiedenen Zielen. Ein Kind müsste einen Weg, ohne schon sein Ziel zu kennen, ausprobieren können. Viele Wege führen nach Rom, und Rom hat viele Quartiere. Wir haben doch in den letzten Jahrzehnten eine Arbeitswelt herausgebildet, in der kein Mensch mehr mit einer einmaligen Berufsausbildung existieren kann. Gerade jetzt sollen wir die Schule so reorganisieren, dass Selektionsentscheidungen «verlässlicher und gerechter», das heisst einmaliger und definitiver werden.

[Schule ist eine komplexe Sache und verträgt einige Widersprüche. Aber die Vorlage scheint unklare oder einseitige Ziele zu verfolgen ("Kindgerechtigkeit"); und dort, wo Ziele fassbar sind (Individualisierung und Ausleseverbesserung), sind sie sachlich und politisch fragwürdig und stehen untereinander im Widerspruch.]

(4) Ein viertes Ziel der Vorlage ist, das «übersteigerte Konkurrenzdenken» abzubauen und mehr «Zusammenarbeit, Solidarität und Kameradschaft» zu fördern. Dagegen ist nichts einzuwenden. Weil das alles aber nicht von selbst kommt, interessiert hier ganz besonders, wie sich die Planer die Verwirklichung dieses Ziels vorstellen. Das führt mich zur Diskussion der in Aussicht genommenen Mittel oder Massnahmen. Es sind dies:

Um zwei Jahre verlängertes Zusammenbleiben der Grundschulklassen, intensivierte Beobachtung und Förderung, Massnahmen der inneren Differenzierung und abteilungsweiser Unterricht.

[[ursprünglicher Text: (a) Das um 2 Jahre verlängerte Zusammenbleiben der Grundschulklassen, wobei der Lehrplan der bisherigen Primarschule (Dekretsentwurf), möglicherweise unter Ergänzung mit mehr Fremdsprachenunterricht (Vortrag), gelten soll. Warum eigentlich verschweigt uns das die Abstimmungsvorlage?

(b) Intensivierte "Beobachtung und Förderung" im Hinblick auf die "weitere Schulung des Kindes in Zusammenarbeit mit den Eltern" (Dekretsentwurf; der Begriff der "Beobachtung" wird infolge grossrätlicher Sprachregelung in der Vorlage unter den "besonderen Massnahmen" vermieden).

(c) "Massnahmen der inneren Differenzierung". Diese werden in der Vorlage auf S. 9 näher erläutert. Im wesentlichen geht es darum, dass die Lehrkraft "das Schülerverhalten differenziert betrachtet und den Lernprozess der Schülerinnen und Schüler individuell gestaltet", beispielsweise durch "Stellen von Aufgaben, die sowohl einfachere als auch anspruchsvollere Bearbeitungen und Lösungen zulassen", durch selbständiges Weiterarbeitenlassen u.ä.

(d) Abteilungsweiser Unterricht, wobei entweder "für die spezifische Betreuung von Kindern mit Lernschwierigkeiten" oder für "die Förderung von Kindern mittlerer Begabung" oder für die Förderung "von besonders begabten Kindern" eine zusätzliche Lehrkraft beigezogen werden kann (aus dem Kommentar der Erziehungsdirektion zum Dekretsentwurf).]]

Auch die vier Massnahmen mischen Selbstverständliches mit Widersinnigem. Die Schule kennt traditionell mehrere Anpassungsweisen an die individuellen Voraussetzungen und Erfordernisse der Schüler, nämlich die Formen der sogenannten «Individualisierung des Unterrichts»: die klasseninterne oder die klassenübergreifende Differenzierung, das Führen verschiedener Schultypen, der abteilungsweise Unterricht und die Wahlfächer. Ist es nicht ein wenig paradox, dass mit dem Modell 6/3 eine dieser fünf Möglichkeiten, nämlich die Differenzierung zwischen Primarund Sekundarschule, in ihrer Wirkung vermindert wird, gleichzeitig aber zwei andere Mittel für das gleiche Ziel, nämlich die klasseninterne Differenzierung und der abteilungsweise Unterricht, mit beträchtlichen Kosten ausgebaut und verstärkt eingesetzt werden sollen? Das wäre dann sinnvoll, wenn die neu bevorzugten Mittel den alten überlegen wären. Dafür gibt es keine Belege. Weder sind in der Vorlage solche genannt, noch gibt es sie in der wissenschaftlichen Forschung.

[ch kommentiere noch den abteilungsweisen Unterricht auf dem Hintergrund des vierten Ziels. Ein bis drei Lektionen pro Woche würde also gemäss dieser Massnahme ein Teil der Klassen in Sonderunterricht gehen, während der Rest mit dem Klassenlehrer im Normalprogramm weiterginge. Zum Beispiel könnten Abteilungen mit Lernbehinderten oder mit Hochbegabten gebildet werden. Wollte man nicht mit dem Zusammenbehalten der Grundschulklasse eine heilere Welt schaffen, in der Schülerbewertung, Vergleichsdenken, Konkurrenzdruck vermindert oder aufgeschoben werden, damit Solidarität und Kameradschaft besser gepflegt werden können? Aber was mit dem Übertritt zwischen Schultypen ein seltener Vorgang ist, in einigen Fällen schmerzhaft, aber nach kurzer Zeit verkraftbar und (hoffentlich!) nach Fehlentscheidungen korrigierbar, soll jetzt jede Woche in der Klasse stattfinden: je nach der Abteilungsbildung sollen nun jedes Mal einige Schüler als die Ausgezeichneten oder einige als die Nachhilfebedürftigen markiert und mit einer Sonderbehandlung belohnt oder bestraft werden. Wird da der Konkurrenzdruck nicht noch verstärkt, weil die Selektion jede Woche durchexerziert werden muss? Wo bleiben Anreize für mehr Solidarität? Was kann oder muss eine Schülerin tun, um in die ausgezeichnete Gruppe hineinzugelangen, was ein Schüler um der Nachholabteilung zu entkommen? Sind die Schülerinnen und Schüler nicht noch stärker als bei einem wiederholbaren und von einem Lehrerkollegium zu verantwortenden Selektionsverfahren dem Risiko von Lehrerwillkür ausgesetzt? Ich kann mir schwer vorstellen, dass pädagogisch gewissenhafte Lehrer von dieser Massnahme mehr als sporadisch Gebrauch machen, wenn sie deren Folgen auf die Kinder beobachtet haben werden.]

Ich möchte nicht den Eindruck erwecken, hier hätte ein Fachmann aufgezeigt, das Schulmodell 6/3 sei wissenschaftlich begründbar falsch und schlechter als 4/5; denn auch das Umgekehrte kann man wissenschaftlich nicht beweisen. Schulorganisation ist ein Mittel, Mittel kann man nur im Hinblick auf gesetzte Ziele bewerten. Eine bildungspolitische Leitlinie wird aber aus der Vorlage nicht erkennbar; also kann man auch ihre Mittel eigentlich nicht bewerten. Sollen wir also in einen Zug umsteigen, der auf ein bisschen anderen Umwegen in das gleiche alte «Rom» fährt, das längst am Zerbröckeln ist?

[Mit der Annahme der Vorlage würden einmal mehr Scheinlösungen an den wirklichen Aufgaben vorbei dekretiert. Gestern brandete der Kampf um den Herbstschulbeginn, morgen wird er um die Fünftagewoche ausbrechen. Diese Organisationsreform löst keine Probleme; sie verschiebt einige und schafft aller Voraussicht nach eine ganze Reihe von neuen.

Natürlich muss zustimmen, wer gesamtschweizerische Koordination für wichtig hält. Von der Sache her möchte ich aber zu Ablehnung raten und dann auf eine Schule hin arbeiten, welche den Tatsachen der menschlichen Entwicklung jedes Individuums und den Anforderungen einer rollendifferenzierenden Arbeits- und Lebenswelt besser Rechnung trägt. Und wir sollten die Bildungsziele offen zur politischen Diskussion stellen und dann die geeignetsten Mittel zu ihrer Verwirklichung finden. Organisatorisches sollte dem Inhaltlichen nicht vorausgehen, sondern nachfolgen.]

 

Leserbrief: Zum Artikel von Alfred Lang zum Schulmodell 6/3 vom 23.1.

Redaktionelle Bearbeitung von Beiträgen ist unvermeidlich. Kürzungen, Titelformulierung und Plazierung durch die Redaktion haben aber meine Meinung so stark entstellt, dass eine Berichtigung im Einverständnis mit der verantwortlichen Redaktion angezeigt ist; meine Reklamation vom 24.1. kam leider zu spät. In meinem Beitrag vom 23.1. sind die Schlusssätze von fünf Abschnitten und das Fazit des Artikels der Streichung zum Opfer gefallen. Wenigstens den Schlussabschnitt möchte ich der Leserschaft nicht vorenthalten:

"Mit der Annahme der Vorlage würden einmal mehr Scheinlösungen an den wirklichen Aufgaben vorbei dekretiert. Gestern brandete der Kampf um den Herbstschulbeginn, morgen wird er um die Fünftagewoche ausbrechen. Diese Organisationsreform löst keine Probleme; sie verschiebt einige und schafft aller Voraussicht nach eine ganze Reihe von neuen.

Natürlich muss zustimmen, wer gesamtschweizerische Koordination für wichtig hält. Von der Sache her möchte ich aber zu Ablehnung raten und dann auf eine Schule hin arbeiten, welche den Tatsachen der menschlichen Entwicklung jedes Individuums und den Anforderungen einer rollendifferenzierenden Arbeits- und Lebenswelt besser Rechnung trägt. Und wir sollten die Bildungsziele offen zur politischen Diskussion stellen und dann die geeignetsten Mittel zu ihrer Verwirklichung finden. Organisatorisches sollte dem Inhaltlichen nicht vorausgehen, sondern nachfolgen."

Natürlich habe ich gewusst, dass man meine Argumente missbrauchen kann; aber als simplen Gegner von 6/3 sollte man mich doch nicht verstehen. Mein Engagement gegen diese Schulreorganisation hatte den Sinn, Fragen zu stellen, die auch nach dem Volksentscheid noch so offen sind wie vorher. Meine Hoffnung für die Schule bleibt, dass wir möglichst bald auch über 6/3 hinauskommen werden.

Prof. Dr. Alfred Lang, Herrenschwanden

Top of Page