Alfred Lang

University of Bern, Switzerland

Book Section 1964 (Part of Chapter 2)  

Über zwei Teilsystem der Persönlichkeit

Beitrag zur Psychologischen Theorie und Diagnostik

1964.01c

@Pers @SciTheo @DiffPsy @EcoPersp

42 / 53KB 2 figs., 6 equations
Last revised 98.11.01

(Diss. phil., Universität Bern, 1964)

Bern, Huber, 1964 (147 S.)

© 1964 by Verlag Hans Huber Bern

© 1998 by Alfred Lang

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Über zwei Teilsysteme der Persönlichkeit. Bern, Huber. S.18Ð33

 

Die Theoretische Psychologie von Lewin

 


Das Werk LEWINs hat zwei Wurzeln: eine psychologische und eine wissenschaftstheoretische. Sein psychologisches Anliegen ist, eine Denkweise und Begriffe, wie sie sich vor allem auf dem Gebiete der Wahrnehmung in Form der klassischen Gestaltpsychologie als fruchtbar erwiesen hatten, auf Probleme wie Gefühl und Handeln anzuwen den und darüber hinaus zu einer allgemeinen theoretischen Psychologie vorzustossen. Die zweite Wurzel liegt in der Besinnung des Forschers auf sein wissenschaftliches Tun. Angeregt durch ERNST CASSIRERs Erkenntnistheorie hat LEWIN in den Zwanziger Jahren verschiedene Beiträge zur Wissenschaftstheorie geleistet, so z. B. einen pro grammatischen Entwurf einer «vergleichenden Wissenschaftslehre» (1925) als einer empirischen Wissenschaft über die Wissenschaften. Höchst lesenswert ist auch heute noch seine Abhandlung «Gesetz und Experiment in der Psychologie» (1927); die dort getroffene Unterscheidung der phänotypischen und der konditional-genetischen Erfassung eines wissenschaftlichen Gegenstandes ist seither auch in der Psychologie unumgänglich geworden. Nur konditional-genetisch erfasste Zusammenhänge, die an exemplarischen Fällen als einen bestimmten Zusammenhangs- oder Geschehenstypus vertretend aufgezeigt werden, können als auf gleiche Fälle anwendbare Gesetzmässigkeiten betrachtet werden; dagegen handelt es sich bei phänotypischen Zuordnungen, wo induktiv von vielen Fällen auf alle geschlossen wird, um böse Regelmässigkeiten. In «aristotelischen», klassifizierenden Begriffen beschriebene Sachverhalte ergeben Regeln; das «galileische» Vorgehen berücksichtigt die gegebene Situation als ganze und beschreibt sie in Form von funktionalen Abhängigkeiten zwischen ihren Teilen (1931). Die bedeutendste und leider ohne nachhaltige Wirkung gebliebene wissenschaftstheoretische Leistung LEWINs sehe ich jedoch in seinem Begriff der Genidentität (1922).

Auf den Begriff der Genidentität hier einzugehen ist nicht nur für das Verständnis von LEWINs Psychologie empfehlenswert; dieser Begriff ist auch geeignet, gewisse fundamentale Fragen, die sich die Psychologie über ihren Gegenstand stellen muss, einer Lösung naherzubringen. Damit sei nicht behauptet, LEWINs Lösung sei die einzig mögliche. Manche Missverständnisse des LEWINschen Ansatzes hatten sich freilich durch Berücksichtigung der Schrift über den Begriff der Genese (1922) vermeiden lassen; das Buch ist aber den amerikanischen Psychologen nicht nur schwer zugänglich, es dürften auch die aufgeworfenen Probleme für einen Empiristen wenig Problemcharakter haben. Unter anderem wird hier die Beziehung der Psychologie zur Physik auf legitim wissenschaftstheoretische Weise geklärt und nicht wie üblich entweder metaphysisch oder bloss methodisch verdunkelt. Kritiken, wie die von LONDON, LEWIN missbrauche physikalische Begriffe, verlieren im Lichte dieser wissenschaftstheoretischen Überlegungen ihre Berechtigung; auch der seit BRUNSWICK (1943) immer wieder vorgebrachte Einwand, der Lebensraum sei in eine subjektive Welt «eingekapselt», erweist sich, wie zu zeigen sein wird, auch ohne LEWINs Widerlegung (1963:57f.) als ein Missverständnis. Es ist freilich schon so, wie TOLMAN in seinem Nachruf (1948) sagt, dass es LEWIN nicht immer gelungen ist, seine Gedankengänge lücken- und sprunglos zu explizieren; um so wichtiger ist die «Rekonstruktion» der Wurzeln der Theorie.

Was bedeutet der von LEWIN eingeführte Begriff der Genidentität? Er soll eine Antwort auf die Frage nach der Existenzweise der Gegenstände verschiedener Wissenschaften geben Note 1.

«Wenn man einen Stein in der Hand hält oder einen Stern mit Hilfe des Fernrohrs eine Zeitlang beobachtet, so pflegt man von dem einen Stein, dem einen Stern zu sprechen, der innerhalb der beobachteten Zeit wohl irgendwelche Veränderungen erleiden mag, aber abgesehen von diesen Veränderungen der eine ,identische Gegenstand‘, ein ,zeitlich ausgedehnter Körper‘ ist» (1922:7f.). LEWIN schlägt nun vor, «physikalische Gebilde, die zu verschiedenen Zeitmomenten existieren», als eine «Mehrheit von Gebilden» aufzufassen, welche dann, wenn sie zeitlich auseinander hervorgehen, durch die Beziehung der Genidentität miteinander verbunden sind. Als eine Existentialbeziehung im Nacheinander setzt die Genidentität eine Mehrheit verschiedener Gegenstände voraus und unterscheidet sich dadurch von der Identität (Gleichheit, Ähnlichkeit), welche auf eine Mehrheit von Denkakten über Gegenstände Bezug nimmt und eine Eigenschaftsbeziehung dar stellt. Die Gegenstandsordnungen der verschiedenen Wissenschaften beruhen ausschliesslich auf Eigenschaftsbeziehungen, d.h. auf Variation oder Konstanz von Eigenschaften der stillschweigend als gen identisch vorausgesetzten Untersuchungsgegenstände. Anhand seiner phänomenologisch-vergleichenden Untersuchung verschiedener Wissenschaften hat LEWIN gezeigt, dass der Genidentitätsbegriff der organismischen Wissenschaften (einschliesslich der Psychologie) sich von demjenigen der physikalischen Wissenschaften bedeutsam unter scheidet.

Als Grundtypus der Existentialbeziehung kennen beide Wissenschaften die geordnete und kontinuierliche Genidentitätsreihe jener «Gebilde oder Gebildekomplexe [. . .], die in der Beziehung des existentiellen Auseinanderhervorgegangenseins stehen» (1922:9). In der Physik ist die Reihe restlos genidentischer Gebilde unter anderem da durch charakterisiert, dass sie beiderseits unbegrenzt ist und weder einen ausgezeichneten (Quer-)schnitt noch eine ausgezeichnete Richtung kennt; d.h. für jedes physikalische Gebilde gibt es sowohl vor her wie nachher beliebig viele genidentische Gebilde, und durch einen beliebigen Schnitt sind alle früheren oder späteren Schnitte derselben Genesereihe bestimmt. Restlose Genidentität eines gegebenen Gebildes ist zwar nur in einem eingeschlossenen System gewährleistet; z.B. sind ein Eisenstück vor und nach Oxydation wohl teilweise, aber nicht restlos genidentisch. Unter Einbezug des Zusammenhangs von Ding und Geschehnis (Masse und Energie) und ungeachtet des Zusammen oder Getrenntvorkommens seiner Teile ist es jedoch in der Physik stets möglich, ein hinreichend umfassendes Gebilde zu irgendeinem andern Zeitpunkt anzugeben, welches mit einem gegebenen Gebilde restlos genidentisch ist, so dass das eine aus dem andern abgeleitet werden kann (1922:49ff. und vorausgehender Text). Mit andern Worten, das physikalische Universum ist geschlossen und erleidet keine Einwirkung von aussen (1936:69). Umgekehrt ist unter dem Gesichtspunkt der Existenz für die Physik nur das physikalische Universum in seiner Gesamtheit der adäquate Forschungsgegenstand, da nur in diesem mehrere gegebene Gebilde zum vornherein restlos genidentisch sind; praktisch ist es natürlich möglich, nach Festlegung auf einen bestimmten Bezugspunkt geschlossene Teilsysteme zu isolieren und somit in diesen die Genidentität zu gewährleisten. Allgemeiner Parameter der physikalischen Genesereihen ist die metrische Dimension der Zeit.

Im Gegensatz hierzu sind die Individualgenidentitätsreihen der organismischen Biologie Note 2 beiderseitig begrenzt und kennen ausgezeichnete Schnitte und Richtung. Über einen bestimmten jüngsten Schnitt, seinen Ursprung, hinaus gibt es für das Leben des Organismus kein früheres genidentisches Gebilde. Ebenso besitzen vollständig individual-genidentische Reihen einen je ältesten Schnitt, und es bleibt stets unbestimmt, ob es spätere Schnitte geben wird oder nicht; die Individualreihe endet mit dem Tod. Die biologisch genidentischen Gebilde einer Individualreihe sind physikalisch durchaus nicht restlos gen identisch, da der Organismus dem Stoffwechsel unterliegt. Eine voll ständige Individualreihe ist nur durch ihren spätesten Schnitt und nur in rückwärtiger Richtung eindeutig bestimmt, d.h. die Entwicklung des Individuums ist nach vorne « offen». Ferner sind vollständige Existentialbeziehungen eines Organismus nur mit ihm selbst möglich. Zu mindest im Bereich der höheren Organismen ist für ein Individuum a neben und gleichzeitig mit einem mit a genidentischen Individuum b kein zweites mit a genidentisches Individuum denkbar (1922:161ff. und vorausgehender Text). Das bedeutet, dass das Universum der organismischen Biologie (sieht man von den psychologisch irrelevanten Aval- und Stammgenesereihen ab) der individuelle Organismus in seiner Entwicklung ist. Denn nur «innerhalb» des individuellen Längsschnitts ist die Genidentität der Gliedteile zum vornherein möglich. Überdies ist, wie oben dargelegt, vollständige Genidentität dieser Gliedteile nur in der Rückschau gewährleistet. Es gibt ferner keinen mit der physikalischen Zeit vergleichbaren Parameter, welcher allgemein für alle biologischen Gegebenheiten gilt; sondern jedes biologische Universum -- also der individuelle Organismus! -- hat als solches vielmehr seine eigene «Zeit». Und diese ist nicht eine metrische Dimension mit beliebig teilbaren und gleich Rosen Einheiten. Der für das biologische Individuum relevante Längsschnittparameter ist die Rangreihe der Schnitte in seinem Lebenslauf. Sollen verschiedene Individuen in bezug auf den Längsschnittparameter miteinander verglichen werden, so muß ein ausserhalb von ihnen existierender Bezugspunkt gewählt werden, an dem sie teilhaben (I922:155f.). Dieser ist dem übergeordneten Medium zu entnehmen, in dem sich die individuellen Universa befinden, beispielsweise dem physikalischen Uni versum mit seinem Parameter der Zeit. Solche Besonderheiten des biologisch Existierenden hat auch die Psychologie zu berücksichtigen, in sofern vorausgesetzt wird, dass, was als psychische Organisation und ihre Funktionen den Gegenstand der Psychologie ausmacht, nur in Verbindung mit lebenden Organismen angetroffen wird.

Durch den Nachweis unterschiedlicher Genidentitätsbegriffe ist eine sehr wichtige Einsicht in die Grundlagen der psychologischen Wissenschaft und besonders der Psychologie der Persönlichkeit gewonnen, durch welche der Gegensatz zwischen allgemeiner und differentieller Psychologie in einem neuen Licht erscheint. Die Psychologie muss also jedem einzelnen individuellen Lebenslauf ein besonderes «Universum» zuweisen. Wissenschaftstheoretisch ist jedes dieser Universa dem physikalischen Universum äquivalent. Die psychologischen Universa unterscheiden sich jedoch vom physikalischen dadurch, dass dieses ein dynamisch geschlossenes System, jene aber dynamisch offen sind, d.h. mit Gegebenheiten ausserhalb ihrer selbst in Kommunikation treten (1936:68-75). Diese Kommunikation ist allerdings nur im je gegenwärtigen Schnitt möglich.

Um die aufgezeigten Grundsätze in methodisch einwandfreier Weise verarbeiten zu können, schlug LEWIN vor, die psychologischen Universa, d.h. die Individuen, ähnlich wie die Physik dies mit ihrem Universum so erfolgreich durchgeführt hat, mit Hilfe eines mathematischen Raumbegriffesdarzustellen. Dies müsste freilich ein Begriffssystem sein, welches eben den Besonderheiten der biologisch-psychologischen Genesereihe, also besonders der relativen Offenheit-Geschlossenheit gegen die umgebende physische und soziale Welt, Rechnung trüge. Als wichtigste Konstrukta wären formale Äquivalente für das Individuum selbst, für die es umgebende Welt und für die Kommunikation dieser beiden im je gegenwärtigen Zeitpunkt anzunehmen.

LEWIN war wohl der erste Psychologe, der ein dem theoretischen Physiker schon lange und manchen Psychologen seit Anfang der Fünfziger Jahre ebenfalls geläufiges Vorgehen für die Psychologie adaptiert hat: nämlich ein vorliegendes, in seiner Eigengesetzlichkeit «frei erfundenes» (EINSTEIN) formales Begriffssystem empirisch zu interpretieren, anstatt die Theorie aus den vorliegenden Daten zu abstrahieren (vgl. dazu EINSTEIN, 1933, und KOCH, 1941). Im Verfolg eines Einfalls, die Wandtafelskizzen psychologischer Situationen könnten mehr als bloss didaktische und Denkbeihilfen sein (Vorwort zu 1936), entschied sich LEWIN für eine geometrische Mathematik und wählte aus den damals vorliegenden Begriffssystemen Teile der Topologie, die ihm für die gestellte Aufgabe am geeignetsten zu sein schienen (1936). Nach den Erfordernissen der Psychologie ergänzte er diesen Ansatz durch Einführung eines Richtungsbegriffes zu seinem System des hodologischen Raumes (1934) und schuf mit vektoriellen Begriffen die Möglichkeit zur Darstellung psychologischer Kräfte (1938). Den übernommenen mathematischen Ansatz hat er so bis zur Unkenntlichkeit erweitert und modifiziert. Note 3

In einer zweidimensionalen Topologie lässt sich das Individuum als die Region innerhalb eines in sich zurückkehrenden Linienzuges (Jordankurve) darstellen; die äussere Welt ist durch die diese Jordankurve umgebende Fläche repräsentiert. Die postulierte Kommunikation zwischen Individuum und Welt ergibt sich durch die Auffassung dieser Jordankurve als einer «permeablen» Grenze (vgl. Figur 2.1). Der von uns als psychologische Wurzel des LEWINschen Ansatzes bezeichneten gestaltpsychologischen Konzeption kommt diese Darstellungsweise sehr entgegen, wenn sie nicht gar von ihr inspiriert ist. Individuum und Welt lassen sich leicht als Figur und Grund interpretieren, die Strukturprinzipien der Gestalt können dann in einem übertragenen Sinn angewendet werden, besonders müsste für das Individuum eine generelle «Prägnanztendenz» gelten.

 

 

Figur 2.1 Topologische Darstellung des Individuums in der äußeren Welt. Die Kommunikation zwischen Individuum und Welt ist durch die «Permeabilität» der Grenze berücksichtigt.

 

Fasst man diese Darstellung des Individuums zusammen mit der Welt -- eine Figur auf einem unbegrenzt grossen Grund -- im besonderen als eine Darstellung eines n-ten (Quer-)schnittes der restlosen Genidentitätsreihe der gesamten Welt auf, mit andern Worten repräsentiert dieser Grund zusammen mit der Figur das geschlossene Universum einer hypothetischen Einheitswissenschaft, welche die gesamte Wirklichkeit unter allen denkbaren Aspekten zugleich zum Gegen stand hat: so ist der nächstfolgende (n+1)-te Schnitt dieser Genidentitätsreihe vollständig determiniert. Denn in der Darstellung des (n+1)-ten Schnittes ist kraft der Definition der restlosen Genidentität nichts vorhanden, das nicht schon im n-ten Schnitt gegeben ist. Wären die Gesetzmässigkeiten dieser fiktiven Einheitswissenschaften bekannt, so könnte in diesem Universum aus jedem n-ten Schnitt der (n+1)-te Schnitt vorausgesagt werden.

Eine solche Einheitswissenschaft ist fiktiv, weil wir in der Erforschung der Welt stets nur dann Gesetzmässigkeiten zu erkennen vermochten, wenn das Universum, auf das sie bezogen sind, sowie der Gesichtspunkt, unter dem Gesetze formuliert werden, radikal eingeschränkt wurden. So sind uns eine grosse Zahl nichtpsychologischer Gesetzmässigkeiten bekannt, welche Aspekte der äusseren Welt betreffen. Es handelt sich dabei vorwiegend um physische Ereignisse, welche die Gegenstände der physikalischen Wissenschaften abgeben. Über soziale Ereignisse in der äusseren Welt wissen wir infolge der Schwierigkeit, geschlossene Bereiche abzugrenzen, eher in Form von Regelmässigkeiten ein wenig Bescheid.

Die Psychologie nun hat sich eigentlich um die Gesetzmässigkeiten «innerhalb» der Figur dieser fiktiven restlosen Genesereihe zu kümmern. Dem Erfolg dieser Bemühung steht aber die Permeabilität der Grenze entgegen. Das Individuum mag zwar in einem gewissen Rahmen darüber entscheiden können, wo in der Welt, an welchen Orten und unter welchen Leuten, es sich aufhält. Die meisten Geschehnisse in einer gegebenen Situation entziehen sich dann aber seiner Macht; doch wirken sie -- in praktisch bedeutsamer Weise jedenfalls ein gewisser Teil von ihnen -- auf das Individuum ein. Aus der Psychologie müssen diese Gesetzmässigkeiten über die Kommunikation zwischen Individuum und Welt zunächst irgendwie ausgeklammert werden, ob wohl sie natürlich unumgänglich sind. LEWIN hat gegen Ende seines Lebens programmatisch einen Wissenschaftszweig, die psychologische Ökologie, inauguriert, welcher (unter Einbezug physikalischer, sozial wissenschaftlicher, wirtschaftswissenschaftlicher usf. einerseits, sowie psychologischer Gesetzmässigkeiten anderseits) Aussagen darüber macht, in was für einer äusseren Situation sich ein gegebenes Individuum oder eine Gruppe zu irgendeinem gegebenen Zeitpunkt befindet (1963, Kapitel III und VIII). Zunächst sollte aber -- dies ist die engere psychologische Aufgabe -- das psychologische Geschehen innerhalb einer unverändert vorgegebenen Situation dargestellt und erklärt werden. Relevant ist dann nur ein begrenzter und konstantbleibender Bereich der äusseren Welt. Die Isolierung begrenzter Bereiche ist für das praktische Vorgehen der Forschung in jeder Wissenschaft unumgänglich.

Nach dem oben über die Längsschnittparameter der physikalischen (metrische Zeit) und der organismischen Gebilde (Ordnungsreihe) Gesagten treffen sich die Genesereihe eines Individuums und die Genesereihe der äusseren Hülle, in der es sich befindet, ausschliesslich in der Gegenwart. Soll nun unsere durch die Jordankurve eingeschlossene Region den gegenwärtigen Schnitt einer Individual-Genidentitätsreihe und die sie umgebende Fläche den gegenwärtigen Schnitt der Genidentitätsreihe des übergeordneten Mediums darstellen, in welchem sich das Individuum befindet (d.h. die für das Individuum jetzt relevante physische, soziale usf. Welt), und betrachten wir ferner diese Darstellung des gegenwärtigen Individuums in seiner gegenwärtigen äusseren Hülle als ein Differential in bezug auf den Längsschnitt der beiden genidentischen Reihen: so ist in dieser Darstellung kein zeitlicher Parameter mehr vorhanden. Da nur in der Gegenwart die Zeitdimension des Mediums und die Ablaufsdimension des Individuum koinzidieren, gelingt es nur durch diese Differenzierung, die Kommunikation des Individuums mit seiner äusseren Hülle zu erfassen. Das Ziel der Psychologie besteht ja in der Spezifizierung dieser Kommunikation, nämlich der gesetzmässigen Verbindung des Aufnehmens mit dem resultierenden Handeln. Der gegenwärtige Schnitt ist nun aber die Geschehenseinheit; das Geschehen ist durch die Differenzierung nach der Ablaufsdimension nicht mehr als ein Prozess aufgefasst, sondern mathematisch-räumlich als ein System Note 4. In diesem System haben die Aufnahme von aussen und die Handlung nach aussen, als Vorgänge aufgefasst, keinen Platz. Zeitlich gesprochen, finden Aufnahme und Handlung «zwischen» den für die Gesetzmässigkeiten relevanten Ablaufsdifferentialen statt. Insofern ist BRUNSWIKs Wort von der «Einkapselung» berechtigt.

Richtiger ist es aber zu sagen, dass wir es in unserem topologischen Raum mit einem System zu tun haben, dessen Struktur in jedem Ablaufsdifferential zwei unselbständige Teilstrukturen aufweist, wobei die eine das Individuum als ein aufnehmendes, die andere als ein handelndes darstellt. Die Gesamtstruktur ist eine konditional-genetische Beschreibung des psychischen Geschehens von der Aufnahme bis zur Handlung in Form eines mathematisch-räumlichen Konstruktums. Worauf es ankommt, ist die funktionale Beziehung zwischen den bei den Teilstrukturen des Systems: sie ist eigentlich das psychologische Gesetz Note 5.

Man sieht, dass in strengem Sinn psychologische Gesetzmässigkeiten nicht nur unter Absehung von der äusseren Welt formuliert werden können, sondern müssen, da nur im je gegenwärtigen Schnitt diese äussere Welt für das Individuum überhaupt relevant sein kann. Im je gegenwärtigen Ablaufsdifferential existiert eben die äussere Welt für das Individuum nicht mehr als solche, sondern als eine in das Individuum selbst «hereingenommene ». Was vorher nur in der fiktiven Einheitswissenschaft möglich schien, leistet jetzt die Psychologie in bezug auf das eingeschränkte System, da es innerhalb des Ablaufsdifferentials ein geschlossenes System ist, so dass vollständige Genidentität gewährleistet ist. Alle Veränderungen des Systems können mithin vor ausgesagt werden -- vorausgesetzt die Gesetze des Systems sind bekannt --, bis die Aufnahme einer neuen Umwelt eine neue Differenzierung erfordert. Dann treten freilich Gesetzmässigkeiten der psychologischen Ökologie dazu. Diese können vorläufig dadurch umgangen werden, dass man die Analyse auf einzelne konstantbleibende Situationsausschnitte beschränkt, wie das auch auf unsere Rorschachsituation zutrifft. Eine vollständige Psychologie wird sie freilich einbeziehen müssen. Unter der genannten Beschränkung gilt aber, dass alles für die Handlung des Individuums Relevante innerhalb der betrachteten Geschehenseinheit (dem Ablaufsdifferential) im Individuum «drin» repräsentiert ist. Deshalb nennt LEWIN das durch die Region innerhalb der Jordankurve repräsentierte Konstruktum den Lebensraum (L) und definiert es als «die Gesamtheit der Fakten, welche das Verhalten (V) eines Individuums zu einer bestimmten Zeit (t) determinieren» (1936:216):

 

V t = f ( L t )

Gleichung 2.1

d. h. das Verhalten (im weitesten Sinn) zu einer gegebenen Zeit ist eine Funktion des Lebensraumes zu dieser Zeit. Der Lebensraum ist ein formales Konstruktum für die je gegenwärtige psychische Organisa tion. In der topologischen Darstellungsweise ist er als eine Region seinerseits in untergeordnete Regionen differenziert, die zu ihm in einem Teil-Ganzes-Verhältnis stehen.

Der Lebensraum ist das psychologische Feld. LEWIN hat in seiner letzten Zeit diesen Aus druck vorgezogen und den Begriff des Lebensraumes kaum mehr verwendet (vgl. 1963: Kapitel III). Ein mathematisches Feld ist eine Funktion im Raum; d.h. jeder Punkt eines Raumes ist durch eine Grösse, die Feldfunktion, charakterisiert. Raum wie Feldfunktion sind von beliebiger Dimensionalität, die Feldgrössen an den verschiedenen Raumpunkten sind wechselseitig untereinander abhängig. Besonders die letzte Eigenschaft legt die Verwendung des Feldbegriffs in der Psychologie nahe. Dabei stellt sich aber die Frage nach der Struktur des psychologischen Raumes. Im Gegensatz zum mathematischen Feld, dessen Raum in beliebig kleine und einander völlig äquivalente Punkte aufteilbar -- «durchstrukturiert» -- ist, sind sowohl der physikalische wie der psychologische Raum «endlich strukturiert», d.h. ihre kleinsten Einheiten sind unteilbar (1934). Zwischen dem physikalischen und dem psychologischen Raum besteht aber ein (möglicherweise nur gradueller) Unterschied, indem nämlich die Raumeinheiten der Physik ein homogenes drei- bzw. vier dimensionales Gebilde ergeben, dessen Unstetigkeiten erst bei aufs äusserste verfeinerter Analyse zutage treten; die psychologischen Raumeinheiten müssen hingegen als makroskopische, in sich unstrukturierte «Zellen» angenommen werden, welche, in einer vielfältigen «Schichtung» zu strukturierten Unterganzen und Ganzen organisiert, die Träger der Feldfunktion darstellen (1963, Anhang). Das psychologische Feld scheint nicht homogen zu sein (1936:163ff.). Zur Begründung sei an die phänomenalen Qualitäten erinnert (die Natur macht Sprünge!), auf welche die Analyse des psychologischen Feldes notwendig an gewiesen ist. Wir sind (vorderhand?) nicht in der Lage, alle Qualitäten als äquivalente Einheiten dimensionaler Bezugssysteme zu begreifen. Weil der Feldbegriff Homogenität des Raumes zwar wohl nicht impliziert, aber doch nahelegt, ziehen wir vor, vom Lebensraum als einem System zu sprechen.

Der Lebensraum ist jeweils durch einen bestimmten Grad an Einheitlichkeit, zugleich aber auch durch einen bestimmten Grad an Differenziertheit und Organisiertheit charakterisiert. Wie der Lebensraum als ganzer von der äusseren Welt relativ abgeschlossen ist, so sind auch seine Teilregionen untereinander durch «permeable Grenzen» abgetrennt. Im Hinblick auf die jede Region charakterisierende Grösse (die Feldfunktion) sind die Regionen untereinander wechselseitig abhängig. LEWIN unterscheidet zwei Arten der Abhängigkeit: einfache Abhängigkeit besteht zwischen je benachbarten Regionen, d.h. der Zustand der einen Region greift auf die benachbarte Region über; von strukturaler Abhängigkeit ist dann die Rede, wenn bestimmte Regionen innerhalb des Gesamtsystems durch «ausgezeichnete Wege» derart miteinander verbunden sind, dass sie für sich ein Teilsystem bilden so dass sich der Zustand gewisser Regionen nur bestimmten andern Regionen «mitteilen» kannNote 6 . Mit andern Worten, unter den Regionen eines Lebensraumes bestehen wechselseitige Beziehungen, und zwar nicht einfach aller Regionen mit allen, sondern nur gewisser Regionenkomplexe mit gewissen andern in einer fraglos sehr komplizierten, für uns jedenfalls im gegenwärtigen Zeitpunkt unüberschaubaren Struktur.

Dies wird einsichtig, wenn man sich, um den Bezug unseres formalen Systems zu den empirischen Gegebenheiten herzustellen, zu vergegenwärtigen versucht, was denn die einzelnen Regionen repräsentieren. Gemäss der Definition des Lebensraumes dürfte es sich bei seinen Regionen um jene das Verhalten des Individuums zur gegebenen Zeit determinierenden «Fakten» handeln. Wie aber sind diese Fakten zu verstehen ? LEWIN spricht mit Vorliebe von den Regionen als Repräsentanten der Situation und ihrer Komponenten, in denen sich das handelnde Subjekt befinden kann, und besonders auch der Gegen stände und Personen der phänomenalen (und überhaupt der psychisch realen) Umgebung. Denkt man nun aber daran, dass weder Tätigkeiten noch Situationskomponenten noch die Gegenstände psychisch elementar gegeben sind, sondern stets nur in Abhebung voneinander im Sinne von Bezugssystemen sich wechselseitig konstituieren- diese Erkenntnis ist der Kern der Gestaltpsychologie; der Lebensraum hat die Eigenschaften einer Gestalt Ð, so ist nicht einzusehen, wie eine Definition einzelner Regionen oder Regionenkomplexe als solche sinnvoll und möglich sein soll. Das Repräsentationsproblem scheint im topologischen Ansatz nicht lösbarNote 7 . Denn die Definition von unselbständigen Teilen setzt die Kenntnis der ganzen Struktur voraus; und die ganze Struktur ist aber bereits die gesuchte Ordnung des betreffenden individuellen «Universums».

Es sei denn, man verzichte auf die vorzeitige Zuordnung von Regionen des Konstruktums zu realen Einzelfakten und begnüge sich vorläufig mit der Formulierung von allgemeinen Prinzipien der Differenzierung und Organisierung der Regionen im Lebensraum. LEWIN ist diesen Weg gegangen; er dürfte sich auch für unsere Aufgabe empfehlen.

Als eine solche grundlegende Differenzierung des Lebensraumes hat LEWIN vor allem dessen Scheidung in psychologische Person und psychologische Umwelt vorgeschlagen. Wir haben dargelegt, das Individuum befinde sich in einer nichtpsychologischen äusseren Welt; was es daraus aufnehme, sei im Individuum als psychologische Umwelt repräsentiert. Diese Trennung von Individuum und äusserer Umwelt ist aber nur dem externen Beobachter sinnvoll. Für das Individuum selbst existiert ausschliesslich die «hereingenommene» Welt; dieser sieht sich das Subjekt «gegenüber». Irgendwie muss also im Lebensraum auch wieder das Subjekt selbst repräsentiert sein. LEWIN schied eine (ihrerseits als differenziert aufgefasste) Region des Lebensraumes dafür aus und bezeichnete sie als die psychologische PersonNote 8 . Das Attribut «psychologisch» betont, dass es sich um eine formale Konstruktion handelt. Bedeutet P die psychologische Person und U die psychologische Umwelt, so läßt sich die Formel (2. l) wie folgt spezifizieren:

 

Vt = f ( Pt , Ut

Gleichung (2.2)

wobei P und U wechselseitig voneinander abhängig sind.

 

Jeder Lebensraum ist nach LEWIN dadurch charakterisiert, dass sich die psychologische Person in einer bestimmten Region in der psychologischen Umwelt «befindet»; empirisch bedeutet dies, dass das Individuum in der dieser Region entsprechenden Tätigkeit (Zustand) begriffen ist. Die übrigen Regionen der psychologischen Umwelt stellen alle jene Möglichkeiten dar, welche dem Individuum als nächstfol gende und weitere Tätigkeiten «offenstehen» bzw. unzugänglich sind, aber das Verhalten beeinflussen. Diese Struktur des Lebensraumes entspricht, wie wir oben dargelegt haben, dem aufnehmenden Individuum. Es soll durch ein psychologisches Gesetz beschrieben werden -- und mithin in Fällen mit gleicher Ausgangslage vorausgesagt werden -, welche der möglichen Tätigkeiten das Individuum nun tatsächlich aufnimmt; d.h. in welche der Regionen des Lebensraumes sich die psychologische Person «begibt». LEWIN nennt diese Strukturänderung von der aufnehmenden zur handelnden Teilstruktur des Lebensraumes eine Lokomotion der psychologischen Person. Dem Konstruktum der Lokomotion entspricht empirisch das Verhalten (vgl. das Beispiel der Figur 2.2).

Die Lokomotion der psychologischen Person erfolgt auf Grund der dynamischen Struktur des Lebensraumes (d.h. des resultierenden Feldes k* aller herrschenden Kräfte k) entlang «ausgezeichneten Wegen» in Richtung auf die Zielregion (Z):

 

 V = f ( k*P,Z )

Gleichung (2.3)

Dieses Kraftfeld (und also die Lokomotion der psychologischen Person bzw. das Verhalten des Individuums) ist durch zwei Momente bestimmt: erstens die Valenz der Zielregion (Va(Z) ) bzw. die Verteilung der Valenzen in der psychologischen Umwelt, und zweitens die psychologische Entfernung (e) zwischen psychologischer Person und Zielregion (vgl. LEWIN, 1938 oder 1963:290):

 

Va (Z)

k P,Z =

f (---------)

e P,Z

Gleichung (2.4)

 

Figur 2.2 Beispiel für die sukzessive Veränderung von Struktur und Dynamik des LEWlNschen Lebensraumes zur konstruktiven Verhaltensdarstellung.

Ein Kind komme vor einer Konditorei vorbei und sehe im Schaufenster Zuckerzeug; es bekommt ein Bedürfnis, von dem Zuckerzeug zu schlecken. Der Lebensraum des Kindes besteht nun (a) aus den beiden Regionen: S = ohne Zuckerzeug vor dem Schaufenster stehen, und Z = Zuckerzeug haben und schlecken können. Die psychologische Person P befindet sich in S; Z wird zur positiven Valenz Z+, und auf P wirkt eine psychologische Kraft kP,Z in Richtung auf Z. Durch die Wahrnehmung der Schaufensterscheibe zwischen Kind und Zuckerzeug sowie durch die Wirkung eines sozialen Einflussfeldes, wonach man nicht einfach nehmen darf, was man möchte, bekommt der Lebensraum im folgenden Ablaufsdifferential (b) eine veränderte Struktur: immer noch sind die Regionen S und Z+ verhaltensrelevant, und es wirkt eine Kraft auf P in S ein; aber zwischen S und Z gibt es nun keine Verbindung mehr, sondern eine unüberwindliche «Barriere» B verhindert die Lokomotion von P nach Z+. Die von der Barriere ausgehende hemmende Kraft halt kP,Z die Waage. Je nach dem Betrag dieser entgegengesetzt gerichteten Kräfte ergibt sich die Lokomotion von P und damit das Verhalten. Überwiegt , so wird Z für das Verhalten irrelevant, und das Kind wird seinen Weg W fortsetzen (c). Überwiegt , so wird das Kind Mittel und Wege suchen, wie es trotz der Barriere zum Zuckerzeug kommt; es muss seinen Lebensraum erweitern und z.B. die Mutter M einbeziehen, die es ihm kaufen kann (d). Bei gleich grossen entgegengesetzt gerichteten Kräften steigt mit dem Betrag der Kräfte die affektive Gespanntheit des Kindes. (Beispiel modifiziert nach HALL und LINDZEY, 1957:230f.; differenziertere Darstellungen bei LEWIN, 1938, und LEEPER, 1943.)

 

Hierbei ist im Konstruktum der psychologischen Entfernung offenbar die gesamte topologische (hodologische) Struktur des Lebensraumes impliziert, im Konstruktum der Valenz (Aufforderungscharakter) hingegen die Verteilung der Feldfunktion, also die dynamischen Verhältnisse im Lebensraum. Einer positiven Valenz entspricht eine anziehende, einer negativen Valenz eine abstossende Kraft zwischen psychologischer Person und Zielregion. Die Valenzen der Umweltregionen ihrerseits hängen ab von der Natur der Tätigkeiten (Z) selbst, die die Regionen darstellen; sie hängen ferner ab von den Bedürfnissen und Quasibedürfnissen wie z.B. Vorsätzen (empirisch), bzw. vom Zustand der sie repräsentierenden «gespannten Systeme» (s(Z) ) in der psychologischen Person (konstruktiv) (vgl. 1963:305):

 

Va (Z) = f ( Z, s(Z))

Gleichung (2.5)

 

Zusammenfassend ergibt sich also (LEWIN, 1938:Formel 32):

 

s (Z)

 V = f (k*P,Z ) =

f ( Z, ---------)

e P,Z

Gleichung (2.6)

 

In Worten: Das Verhalten (die Entwicklung) ist abhängig vom Kraftfeld zwischen psychologischer Person und Zielregion im Lebensraum; dieses ist eine Funktion:

1. der Natur des Zieles in der psychologischen Umwelt,

2. der psychologischen Entfernung entlang ausgezeichneten Wegen zum Ziel, und

3. der (Bedürfnis-)Spannung in der psychologischen Person.zugeschrieben

Dass diese sehr abstrakt anmutende Theorie der psychologischen Kraftfelder und der Lokomotion der psychologischen Person im individuellen Lebensraum nicht nur anwendbar, sondern höchst fruchtbar ist, zeigt eine grosse Zahl von Untersuchungen, die mehr oder weniger direkt auf sie abstellen. Abgesehen von den in der «Psychologischen Forschung» erschienenen Arbeiten aus dem Berliner Institut, wo die Theorie formal noch nicht dermassen durchgearbeitet war, sei als eine der eindrücklichsten Anwendungen nur CARTWRIGHT und FESTINGERs quantitative Theorie der Entscheidung (1943) erwähnt. Für einen Überblick über die verschiedenen Forschungsgebiete, die auch nach LEWINs Tod (1947) weiterverfolgt wurden, sei auf DEUTSCH (1954) und CARTWRIGHT (1959) verwiesen.

Die psychologische Person kann nun ihrerseits als eine differenzierte Region -- mit Teilregionen die untereinander in Kommunikation stehen -- aufgefasst werden. LEWIN hat im Hinblick darauf hoch interessante Ausführungen zur begrifflichen Erfassung differenzierter dynamischer Ganzheiten gemacht (besonders im Anhang zu 1963); aber diese Überlegungen sind reine Begriffsentwicklungen. Mehr als bei den oben angedeuteten Gedankengängen über die psychologischen Kraftfelder sind diese Ausführungen spekulativ, und ihren Bezug zur Erfahrungswelt aufzuzeigen ist LEWIN nicht gelungenNote 9 . Es bleibt im besonderen offen, wie der Begriff des gespannten Systems in der psychologischen Person zu verstehen ist. Ursprünglich und lange war dies eines der zentralen Konstrukta der Theorie (1926; 1940; ZEIGARNIK, 1927); 1940 spricht LEWIN aber nur noch von «Bedürfnissen», womit er vorher nur eines der verschiedenen empirischen Pendants der Systeme in Spannung bezeichnet hatte.

Soll man «Spannung» als die Feldfunktion (im Sinne einer Verteilung von Potentialen im topologischen Raum) der psychologischen Person und «Valenz» als die Feldfunktion der psychologischen Umwelt verstehen? Sind in diesem Fall die beiden Hauptregionen des Lebensraumes als zwei relativ selbständige Feldkomponenten mit je ihren eigenen dynamischen Bestimmtheiten aufzufassen -- diejenigen der Person mehr von konstitutionellen Faktoren und überdauernden Haltungen, Orientierungen, Zielsetzungen, vielleicht vom Ich her, diejenigen der Umwelt mehr von den Erfahrungen her bestimmt? In der Umwelt wäre zudem in Abhängigkeit von den letzteren die je gegenwärtige Situation repräsentiert, in der sich das Individuum befindet? Die beiden Feldkomponenten, in ein resultierendes Kraftfeld vereinigt, würden dann als eine formale Konstruktion des Lebensraumes die vollständige konditional-genetische Beschreibung des aktuellen psychischen Geschehens darstellen. Viele Fragen müssen offenbleiben.

Wir haben, wie sich von selbst versteht, die LEWINsche Psychologie nur aufs äusserste konzentriert darstellen können und haben zudem unseren Hauptakzent von den eigentlichen feldtheoretischen Formulierungen auf die ihnen zugrunde liegenden Prinzipien verschoben. Manche offengebliebenen Fragen müssen sicher diesem Umstand und der fehlenden Illustration an konkreten Untersuchungen zugeschrieben werden. Es kann aber kein Zweifel darüber bestehen, dass die theoretische Konzeption, wie sie LEWIN hinterlassen hat, als ganze nicht «aufgeht». Nichtsdestoweniger sind wir überzeugt, dass der Ansatz, eine formale Konstruktion aufzustellen, welche das «Psychische» konditional-genetisch beschreibt und damit erst zum «Psychologischen» macht und die Formulierung psychologischer Gesetze ermöglicht, grundsätzlich richtig und notwendig ist.

Den Leser, der sich beim Studium LEWINs vorwiegend von der Sekundärliteratur hat leiten lassen, mag unsere Darstellung der Theorie überrascht und vielleicht befremdet haben. Leider haben wir nur wenige Darstellungen angetroffen, welche den wissenschaftstheoretischen «Ort» LEWINs deutlich genug herausgearbeitet haben und so die scheinbaren Widersprüche über phänomenologisch oder physikalistisch, über innen oder aussen, über empirisch oder konstruktiv und so weiter aufzulösen vermögen. Immerhin befindet sich unsere Auffassung, so glaube ich, in guter Gesellschaft mit KOCH (1941) sowie mit TOLMAN, welcher, obwohl er selber eine etwas andere Denkweise pflog, die Bedeutung des konditional-genetischen Konstruktums «Lebensraum» erkannte. Er gelangte zu nachstehender Schlussfolgerung:

"In the future history of our psychological era there are two names which, I believe, will stand above all others: those of FREUD and of LEWIN" (TOLMAN, 1948:4).

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Fussnoten

1 Um ein naheliegendes Missverständnis zu vermeiden sei betont: das ist eine rein wissenschaftstheoretische Frage, die irgendwelche erkenntnistheoretischen Standpunkte in keiner Weise weder voraussetzt noch einführt! Es geht nicht um die Existenz als solche der Gegenstände, sondern um jene Weise des Existierens, welche die verschiedenen Wissenschaften durch die Art und Weisen, wie sie mit ihren Gegenständen umgehen, diesen Gegenständen unterlegen. Streng genommen sind das implizite (selten explizite) Axiome der betreffenden Wissenschaften.

2 Wir berücksichtigen hier nur die Genidentität des Individuums in seinem Lebenslauf; dass Auseinanderhervorgehen der Individuen in der Generationenfolge erheischt einen modifizierten Genidentitätsbegriff für die Avalreihen. Dieser wie auch der Begriff der Stammgenidentität in der Entwicklungsgeschichte sind jedoch für psychologische Fragen ohne Relevanz LEWINs Ausführungen beziehen sich zwar auf die biologischen Wissenschaften; ohne Zweifel dürfen sie aber sinngemäss auf die Psychologie über tragen werden (1922:229ff.). Wir sprechen von organismischer Biologie, da auch biologische Wissenschaften bestehen, welche die lebendige Materie unabhängig von Organismen betrachten; für sie gelten wieder andere Genidentitätsbegriffe.

3 Es scheint mir richtiger, im folgenden LEWINs Umwege und Revisionen, soweit sie überhaupt in die Publikationen gedrungen sind, zu überspringen und die Grundzüge des theoretischen Systems in seiner letzten -- keineswegs fertigen ! -- Gestalt vorzulegen. Namentlich betrifft dies den «Ort» von Sensorium und Motorium an der Grenze des Lebensraumes, zwischen diesem und der äusseren Hülle vermittelnd (1963:99; Vorwort zu LEEPER, 1943) -- und nicht wie ursprünglich zwischen Person und Umwelt innerhalb des Lebensraumes. Denn in der ursprünglichen Konzeption bildeten die reale Person in ihrer realen Umwelt den «Lebensraum»; in dieser, dem unmittelbaren Wortsinn entsprechenden Bedeutung hatte auch W.STERN (z.B.1930) den Begriff verwendet. Die begriffliche Bedeutung des Konstruktums «Lebensraum» als einer formalen Konstruktion des «individuellen Universums» scheint LEWIN erst nach und nach in den späten Dreissiger Jahren erarbeitet zu haben; doch passt sich diese Revision so selbstverständlich in den Gesamtentwurf ein, dass man sich fragt, wie LEWIN bei seinem Bemühen um begriffliche Exaktheit an so offensichtlichen Inkonsequenzen festhalten konnte. Die Entwicklung der Feldtheorie LEWINs ist, so betrachtet, ein Schulbeispiel für WERTHEIMERs (1957) Auffassung des produktiven Denkens als ein schrittweises Umstrukturieren auf Grund der Prägnanztendenz.

Aus Raumgründen verzichte ich ferner darauf, meine eigenen Interpretationen und weiterführenden Überlegungen in allen Teilen ausdrücklich von den Ausführungen LEWINs abzusondern und kenntlich zu machen. Das Ziel ist schliesslich eine möglichst gute Theorie; und «good theory leads to its own destruction by making better theory possible» (HEBB).

4 Selbstverständlich sind Prozess und System nicht zwei naturgegebene Entitäten, sondern zwei Denkweisen, die wechselseitig ineinander übergeführt werden können. Der praktische Erfolg allein -- und natürlich die Eigenart des denkenden Wissenschaftlers entscheidet über die Angemessenheit der einen oder der andern Denkweise.

5 Vergleiche zu diesem ungewohnten Gesetzesbegriff (LEWlN, l927:407.

6 Für Näheres muß auf LEWIN, 1936, 1938 und 1963, Kapitel V und Anhang, verwiesen werden. LEWIN hat dort auch weitere Möglichkeiten der begrifflichen Erfassung von Struktur und Strukturänderung des Lebensraumes entworfen, auf die in unserem Zusammenhang nicht eingegangen werden soll.

7 Man stösst hier an die Grenzen der topologischen Konstruktion. Diese ist denn wohl entgegen LEWINs frühen Ansichten, eher ein Modell als ein formaler Kalkül für die psychologischen Verhältnisse. Dass LEWIN dies auch gesehen hat, zeigt sich darin, dass er und seine Schüler die topologische Darstellung als erste Annäherung benutzten, um sie für die eigentliche Formulierung der psychologischen Gesetze durch eine algebraische Darstellung des Kraftfeldes zu ersetzen (vgl. z.B. CARTWRIGHT und FESTINGER, 1943).

8 Die Bezeichnung ist nicht sehr glücklich, da in keiner Weise phänomenal-psychisch Gegebenes, weder Person noch Persönlichkeit gemeint ist (vgl. auch DEUTSCH, 1954:190f.). In gewissen Darstellungen LEWINs ist die psychologische Person eher dem physikalischen Massenpunkt vergleichbar. Der Begriff stammt aus der frühen Konzeption; LEWIN hat im Gegensatz zur obigen Darstellung sein System von «innen» nach «aussen», von der Person zur äusseren Hülle aufgebaut.

9 Außer der lapidaren Bemerkung, dass dieselben Prinzipien unverändert gültig seien wie bei der psychologischen Umwelt (1936:168), ist es mir nicht gelungen, bei LEWIN Angaben darüber zu finden, welche empirischen Gegebenheiten durch die Teilregionen der psychologischen Person dargestellt seien.

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